Seelenfeuer
Gesicht eingegraben hatten, die scharfen Kerben und Fältchen, die Lasha in ihrer Eitelkeit so geschickt zu verbergen verstand. Sie legte der Königin die linke Hand auf die kühle Stirn und zog mit Daumen und Zeigefinger sehr behutsam die Lider des kranken Auges auseinander. Blind starrte es ihr entgegen, ein Auge, das einst schön gewesen, nun aber durch eine häßliche Trübung entstellt war.
Das Verfahren zur Entfernung der Trübung war einfach: Man drückte mit der Nadelspitze auf die Augenlinse, bis die Linse sich löste und in die glasige Flüssigkeit zurückschwamm. Das Verfahren selbst war nicht schwierig; es kam vor allem auf die Geschicklichkeit der Hand an, die die Nadel führte. Mera hatte Jahre der Übung und der Erfahrung hinter sich gehabt; Selene hatte nie eine solche Nadel auch nur in der Hand gehalten.
Zuerst hielt sie sie in Allats reinigende Flamme, um die bösen Geister zu bannen, dann näherte sie sie Lashas Auge.
Abrupt hielt sie inne. Nein, das war gewiß nicht der richtige Winkel! Sie lehnte sich ein wenig zurück, um die Rundung des Augapfels genau zu betrachten und den richtigen Eintrittspunkt zu bestimmen. Hier, entschied sie, gleich neben der Iris. Aber wieder wich sie zurück. Auch das war nicht die richtige Stelle. Führte man die Nadel von oben ein, oder mußte sie von unten kommen? Ich weiß es nicht mehr. O Mutter!
»Warum zögerst du?« drängte Kazlah.
Selene war entschlossen, ihn nicht zu beachten. Wieder senkte sie die Nadel, berührte mit ihrer Spitze die glasige Oberfläche des Auges. Hier, sagte sie sich. Drück jetzt ganz leicht.
Ein Beben durchrann ihre Hand, und sie zog sie hastig wieder zurück. Vierzig Augenpaare beobachteten sie. Draußen peitschte der Regen die Palmen und die Weiden.
Ich kann es nicht, dachte sie in Panik. Ich kann es nicht!
Da fiel ihr plötzlich etwas anderes ein, das Mera sie vor langer Zeit gelehrt hatte. Selene war neun Jahre alt gewesen, und ihre Mutter hatte zu ihr gesagt, ›Mach dir ein Bild von der Welt in deinem Inneren, Tochter. Stell dir einen Weg vor, der von der Außenwelt in dich hineinführt. Er hat Biegungen und Windungen, er führt über Hügel und durch Finsternis. Am Ende dieses Wegs wartet etwas auf dich, Selene. Tief im Innern deiner Seele. Du mußt versuchen, es zu ergreifen. Fasse es …‹
Und sie hatte es gesehen. Eine kleine, bläulich-weiße Flamme, kaum größer als eine Träne, die in der Dunkelheit brannte. Selene war ohnmächtig geworden; ihr Kinderkörper hatte die Anstrengung der Reise nach Innen nicht aushalten können. Jetzt aber konnte sie sie aushalten. Sie beschwor die Flamme, und sie brannte hell und wahr in der Finsternis, vertrieb mit ihrem Licht und ihrer Wärme alle Kleinmütigkeit und Furcht.
Selene sah wieder auf das Auge der Königin hinunter, während sie vor ihrem inneren Auge das Bild der Flamme festhielt. Und da hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die weit aus der Vergangenheit kam. ›Die Nadel muß von oben eingeführt werden‹, hatte Mera während einer Staroperation erklärt, bei der Selene zugesehen hatte. ›Man führt sie am Rand der Iris ein und hält sie dabei genau senkrecht zur Augenoberfläche.‹
Ganz auf die Flamme konzentriert, führte Selene die Nadelspitze zum Rand der Iris und übte sanften Druck aus. Langsam, beinahe unmerklich, setzte sich der dunkle Schatten in Bewegung.
Sachten, aber stetigen Druck ausübend, hielt Selene den Blick auf das schlafende Gesicht der Königin gerichtet, das im goldenen Schein ihrer Seelenflamme verklärt schien.
Totenstill war es im Raum; selbst der peitschende Regen schien nachgelassen zu haben. Das Licht von hundert Lampen tanzte über die Wände und warf zuckende Schatten. Wie gefroren standen sie, die königlichen Leibdiener in ihren langen Roben, die Wahrsager in ihren spitzen Hüten, die stummen Sklaven und Wächter; alle beobachteten sie die scheinbar reglose Hand des Mädchens.
Langsam löste sich die getrübte Linse von der Augenwand, und als die Nadel vorsichtig tiefer bohrte, riß sie sich mit kaum wahrnehmbarer Bewegung los und glitt in die Flüssigkeit des Auges zurück.
Selene zog die Nadel zurück, hob den Kopf und sagte: »Es ist getan.«
23
Als Königin Lasha erwachte, noch benommen von dem Schlaftrunk, den man ihr verabreicht hatte, betastete sie vorsichtig ihr Gesicht und stellte fest, daß der Smaragd wieder über ihrem Auge befestigt war. Dann spürte sie, wie eine starke, vertraute Hand die ihre ergriff. Es war
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