Seelenfeuer
konnte. Aber sie wußte, daß sie sich zusammennehmen mußte; denn wenn sie mit der ersehnten Freiheit belohnt werden wollte, mußte die Operation erfolgreich verlaufen.
Und Selene hatte noch nie eine solche Operation durchgeführt.
Beinahe zärtlich berührte sie die einzelnen Gegenstände in ihrem Medizinkasten; jedes Stück war wie ein wiedergefundener Freund: Das Fläschchen mit dem Thymianöl, der kleine Beutel mit den Löwenzahnwurzeln, die kostbaren Lavendelblüten, die getrocknet in einem Holzkästchen aufbewahrt wurden.
Sie wußte jetzt, daß alle Kräuter, die Kazlah ihr bei seinen Besuchen vorgelegt hatte, ihrem eigenen Medizinkasten entnommen gewesen waren; sie hatte sie nur nicht als die Kräuter erkannt, die sie selbst geerntet und liebevoll aufbewahrt hatte. Schwarzwurzblätter sehen überall auf der Welt gleich aus, und als Kazlah sie ihr gezeigt und gefragt hatte, wofür sie gut seien, hatte sie gesagt, »man verwendet sie für Breiumschläge bei Schnittwunden und Verbrennungen«, und hatte nicht gewußt, daß sie von den Blättern einer Pflanze sprach, die sie mit eigenen Händen gezogen und gepflückt hatte.
Nachdem die Sklavin mit dem heiligen Feuer aus dem Tempel zurückgekehrt war, füllte Selene einen Becher mit Wasser und erhitzte ihn über dem Feuer. Sobald das Wasser kochte, gab sie Fenchelsamen hinein und sprach dabei: »Heiliger Geist des Fenchel, entfalte deine heilenden Kräfte in diesem Tee.« Dann stellte sie den Becher beiseite, um den Tee abkühlen zu lassen. Sie würde ihn erst nach der Operation brauchen, um das Auge auszuwaschen und einer Entzündung vorzubeugen.
Sie nahm die Nadel. Sie hatte noch nie mit ihr gearbeitet, doch sie hatte ihrer Mutter mehrmals assistiert, wenn diese Patienten den Star gestochen hatte. Nachdenklich blickte sie auf die lange, feine Nadel, die auf ihrer offenen Hand lag, so leicht wie ein Schmetterlingsflügel, aber auch so drückend wie die Mauern dieses Palasts. Mit diesem hauchdünnen Instrument aus harter Bronze würde sie der Königin entweder das Augenlicht wiedergeben oder den Tod bringen.
Selene legte die Nadel neben die Flamme. Wenn ihre Hand ruhig und sicher war und die Operation erfolgreich, würde sie bald auf dem Weg in die Heimat sein. Doch wenn sie einen Fehler machte – dann war sie verdammt.
Sie hob die Hand zu ihrer Brust und drückte sie auf das Horusauge. Laß es wahr sein, dachte sie, daß ich von den Göttern gekommen bin, denn dann werden sie mir heute abend die Hand führen. Sie können mich nicht an diesen Ort geführt haben, um mich hier sterben zu lassen. Ich habe eine Bestimmung. Ich muß zurück zu Andreas. Und darum muß mir der Weg in die Freiheit geöffnet werden.
Sie nahm die Nadel wieder zur Hand und hielt sie ins Feuer. »Heiliger Geist des Feuers«, murmelte sie, »reinige diese Nadel und verscheuche die bösen Geister, die Krankheit und Tod bringen.«
Sie schloß die Augen und bündelte alle ihre geistigen Kräfte, um sie in ihre Hände zu schicken. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie nochmals geboren, als wäre diese Zeit der Gefangenschaft nur ein Traum gewesen, ein Zwischenspiel, das ihrer Vorbereitung diente.
Plötzlich erkannte Selene, daß diese drei Monate ihre Initiation darstellten, die sie und ihre Mutter eigentlich oben in den Bergen bei Antiochien hatten vollziehen wollen. Sie begriff jetzt, daß die Götter sie hier in diesen Palast geführt hatten, um sie auf das letzte Ritual vorzubereiten: Sie war im Begriff, das erstemal in ihrem Leben ganz allein und auf sich gestellt die Kunst auszuüben, die sie erlernt hatte. Niemand stand ihr jetzt zur Seite, nicht Mera und nicht Andreas. Dies war der Schritt in die Eigenständigkeit; in ihre Selbständigkeit als Heilerin.
»Man nennt es ein Katarakt«, sagte Kazlah mit seiner nasalen Stimme, als Selene ins Schlafgemach trat. »Es ist ein Schleier, der vor der Pupille liegt und dem Auge die Sehfähigkeit raubt.«
Die Königin brachte ihn mit einer ungeduldigen Geste zum Schweigen. Die Sehfähigkeit war ihr nicht wichtig; sie sah mit ihrem gesunden Auge genug. Was sie störte, war der häßliche Schatten, der sich vor Jahren langsam über ihrem Auge ausgebreitet und seine Schönheit ins Abstoßende entstellt hatte. Damals hatte sie angefangen, den Smaragd zu tragen, und niemand, nicht einmal König Zabbai, hatte das Auge seitdem zu Gesicht bekommen. Jetzt jedoch lag es bloß, starrte weitgeöffnet und blind zur Decke hinauf.
Selene trat an
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