Seelenfeuer
das breite Prunkbett der Königin und stellte ihren Medizinkasten auf den Tisch daneben. Ihr folgte die Sklavin mit dem heiligen Feuer.
»Ich brauche Wasser und Seife«, sagte Selene.
»Wozu?« fragte Kazlah unwirsch.
»Um mir die Hände zu waschen.«
Er sah sie argwöhnisch an.
»Das ist ägyptischer Brauch«, erklärte Selene.
»Holt ihr, was sie haben will«, befahl die Königin scharf.
Selene klappte den Deckel ihres Medizinkastens auf. »Würde jemand der Königin einen Becher Wein bringen, bitte?«
Aus der Reihe der Gefäße in ihrem Kasten nahm sie ein kleines Tonkrüglein und hielt es ans Licht, um die Inschrift zu lesen. Das Zeichen der Tollkirsche war in den Ton eingegraben und darunter das ägyptische Schriftzeichen, das böse bedeutete; eine Warnung, daß der Inhalt des Krügleins ein tödliches Gift war.
Als man den Wein brachte, goß Selene ein wenig Flüssigkeit aus dem Krüglein in einen kleinen Kupfertrichter, der mit einem Baumwollpfropfen verstopft war, und hielt den Trichter dann über den Weinbecher. Stumm beobachteten die Umstehenden, wie Selene mit ruhiger Hand den Trichter über den Becher hielt, ohne daß etwas geschah. Doch dann bildete sich am Ende des Trichterrohrs ein Tropfen und fiel in den Wein. Selene stand ganz still, den Blick unverwandt auf den Trichter gerichtet. Noch ein Tropfen formte sich und fiel herab. Und schließlich ein dritter.
Rasch zog sie den kleinen Trichter weg und setzte ihn auf die Öffnung des Krügleins mit dem Tollkirschensaft, um den nicht benötigten Rest des kostbaren Betäubungsmittels aufzufangen. Dann ergriff sie den Becher und schwenkte ihn behutsam, so daß sich die Droge mit dem Wein vermischen konnte. Schon früh hatte Mera sie den sicheren Umgang mit dem Gift der Tollkirsche gelehrt: Verwendete man es in der richtigen Dosis, so brachte es Schlaf und Schmerzlosigkeit; doch schon ein Tropfen zuviel konnte tödlich wirken.
Selene reichte den Becher einer der Kammerfrauen der Königin und sagte: »Gib das der Königin zu trinken.«
Doch ehe die Kammerfrau zugreifen konnte, hatte Kazlah den Becher genommen. »Was ist das?« fragte er.
Selene sah den Mann an, der sie monatelang in Angst und Schrecken versetzt hatte. Nie wieder würde er das tun.
»Das ist ein Geheimnis«, antwortete sie und sah, wie er erstarrte.
»Gib mir den Becher«, befahl die Königin, die ungeduldig auf den Beginn der Operation wartete. Dieses Mädchen hatte ihrem Sohn das Leben gerettet; sie vertraute ihr.
Doch während Selene zusah, wie die Königin trank, packte unerwartete Angst sie. Eiskalt kroch es ihr Arme und Beine hinauf, als ihr mit einem Schlag die Ungeheuerlichkeit dessen bewußt wurde, was sie zu tun im Begriff war. Bei den Vorbereitungen hatte sie nur die Straße nach Antiochien vor sich gesehen, die sie zu Andreas zurückführen würde; jetzt aber, während der Königin die Lider schwer wurden und ihr Kopf auf das Kissen zurücksank, erkannte sie, daß es bei diesem Eingriff wahrhaft um Leben und Tod ging.
Was wird mit mir geschehen, dachte sie, wenn ich versage? Sie warf einen Blick auf Kazlah, dessen schmale Lippen zu einem blutlosen Strich zusammengepreßt waren. Was, wenn man mich zur Strafe diesem Menschen ausliefert?
»Die Königin schläft«, meldete die Hofdame.
Selene schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, das Bild ihrer rechten Hand herzuholen, das Bild der Nadel, wie sie, von ihrer Hand geführt, den richtigen Weg in das Auge der Königin fand. Sie versuchte, sich bildlich vorzustellen, wie ihre Mutter den Eingriff durchgeführt hatte. Die Nadel konnte Schlimmes anrichten, wenn man einen Fehler machte. Sie konnte den Augapfel anstechen, was zu einem Erguß der Augenflüssigkeit und dem Kollaps des Auges führen würde; sie konnte ein Blutgefäß treffen und eine Blutung auslösen, die nicht zu stillen war; schlimmer noch, sie konnte zu tief hineingleiten und die empfindliche Wurzel hinter dem Auge treffen, was zum sofortigen Tod der Königin führen würde.
Selene zitterte. Sie ballte die Hände zu Fäusten, während sie um ihre Fassung kämpfte. Wenn die Operation erfolgreich sein sollte, brauchte sie eine ruhige Hand. Doch je mehr sie sich um Ruhe bemühte, desto schlimmer wurde das innerliche Flattern.
»Worauf wartest du?« fragte Kazlah hinter ihr.
Selene holte tief Atem und nahm die Nadel. Langsam näherte sie sich der schlafenden Königin. Aus dieser Nähe konnte sie die Spuren sehen, die die Jahre in das gepuderte
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