Seelenfeuer
Gefangenschaft geführt.
Und was ist aus meinem Geliebten geworden? dachte sie. Was hat er getan, als er mich nicht finden konnte? Sucht er mich noch? Hat er mich vergessen? Nein, er wird mich nicht vergessen; wir sind auf ewig miteinander verbunden.
Die Leute, an denen Selene auf ihrem Weg zum Harem vorüberkam, grüßten achtungsvoll; schließlich war sie die persönliche Heilerin der Königin. Rein äußerlich glich Selene in allem den Bewohnerinnen dieses königlichen Palasts. Wie alle Frauen trug sie einen Schleier, der die untere Hälfte ihres Gesichts verbarg, Zeugnis für den arabischen Einfluß in Magna. Das schwarze Haar, das ihr nun wieder bis zu den Schultern reichte, war zu festen Zöpfen geflochten, die unter einem lavendelblauen Schleier hochgesteckt waren. Ihre Stirn bekränzte ein Kettchen mit goldenen Münzen; ihr langes, weites Gewand war in der Taille von einem mit Edelsteinen besetzten Gürtel zusammengehalten. Auf Geheiß der Königin hatte Selene begonnen, sich das Gesicht zu schminken.
Kurz vor dem Harem verhielt Selene den Schritt, und die drei Sklavinnen, die ihr folgten, prallten aufeinander. Überall wurde sie von Sklavinnen begleitet; zu jeder Zeit waren sie an ihrer Seite, beobachteten und bespitzelten sie, berichteten der Königin alles, was sie tat. Eine der Sklavinnen – Selene wußte nicht, welche – hatte den Brief gefunden, den sie Andreas geschrieben hatte und aus dem Palast schmuggeln wollte, um ihn einem Reisenden nach Antiochien mitzugeben. Die Sklavin hatte den Brief Lasha überbracht. Seitdem war Selene keinen Augenblick mehr allein.
Zwei Wächter öffneten ihr jetzt die hohe Flügeltür, und danach tat sich das innere Tor, das von Eunuchen bewacht wurde, vor ihr auf. Selene ließ die Sklavinnen zurück und betrat, endlich allein, einen prächtigen, von der Nachmittagssonne erleuchteten Raum.
Sie nahm ihren Schleier ab und lächelte dem schönen, jungen Eunuchen entgegen, der sie begrüßte. Sein Name war Darius, und er gehörte noch nicht lange zum Stab der Eunuchen, die die Frauen des Harems bewachten. Doch in den wenigen Wochen seines Hierseins hatte sich manches nach Liebe ausgehungertes Herz für ihn entzündet.
Darius war schon in frühestem Kindesalter in die Sklaverei verkauft worden. Alles, was ihm aus jener Zeit geblieben war, war eine unscharfe Erinnerung an einen blühenden Innenhof, eine singende Frau, einen grünen Fluß jenseits einer Mauer. Immer waren es die gleichen Bilder, die ihn im Traum heimsuchten: wie große, derbe Hände ihn packten, ihm einen Sack über den Kopf zogen, ihn auf ein Pferd setzten, das ihn weit fort trug von dem grünen Fluß. Danach ein Gewimmel anderer Knaben, mit denen er zusammengesteckt wurde, und schließlich der wiederkehrende grauenhafte Alptraum von strömendem Blut und mörderischem Schmerz und von der erschreckenden Entdeckung seiner Verstümmelung. Es war alles so lange her, daß Darius nicht mehr sicher war, was Traum war und was Wirklichkeit. Klar war nur die Realität der Gegenwart: Nachdem er jahrelang von einem Herrn zum anderen gewandert war, fristete er heute sein Leben im königlichen Harem von Magna, ein empfindsamer junger Mann, dem die Zukunft nichts war als die Finsternis endloser Jahre der Einsamkeit.
Selene tat der Eunuch von Herzen leid, der nicht nur unter seiner Gefangenschaft zu leiden hatte, sondern auch unter den Ränken der Frauen, die er bewachen mußte. So wenig er für seine sanfte Natur und seine jugendliche Schönheit konnte, so wenig konnten die unglücklichen Frauen im Harem für ihre unerfüllten Leidenschaften und Sehnsüchte.
Selene fand den Harem faszinierend und abstoßend zugleich. Die Frauen lebten hier wie in einem goldenen Käfig. Viele hatten, seit sie im Kindesalter hergebracht worden waren, keinen Fuß mehr in den Gang jenseits der schweren verriegelten Tür gesetzt; einige, die im Harem geboren waren, hatten überhaupt nie etwas anderes kennengelernt als das Fleckchen blauen Himmel über dem Innenhof. Junge und alte Frauen lebten hier, schöne und häßliche, kluge und dumme, und keine hatte etwas Anspruchsvolleres zu tun, als darüber zu entscheiden, welchen Schleier sie tragen sollte. Einerseits verhätschelt, andererseits völlig mißachtet, lebten sie dahin, verbrachten ihre Tage bei Spiel und Klatsch, mit der Aufzucht ihrer Kinder und oft in lähmender Langeweile.
Leicht hätte ein derart umworbener junger Mann die Situation zu seinem Vorteil ausnutzen können. Es
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