Seelenfeuer
Tritt vor, mein Kind.«
Von den Wächtern gestützt, stolperte Selene zum Thron, stand wie betäubt, während die Königin herabstieg und ihre neugeborene Untertanin mit zwei klaren, scharfsichtigen Augen betrachtete.
»Ich nenne dich Fortuna, denn du hast mir Glück gebracht. Das soll von nun an dein Name sein. Selene ist tot; du bist neu geboren.«
Eine goldene Kette, an der rundherum tropfenförmige Rubine hingen, funkelte in der Hand der Königin. Sie legte sie Selene um den Hals, ein Symbol der ›Enthauptung‹, wie sie verkündete, die Selene soeben erlitten hatte.
Dann trat Lasha zurück und erklärte zu Selenes Entsetzen mit lauter Stimme: »Ich werde dich stets bei mir behalten. Fortuna von Magna, mit dem heutigen Tag beginnt dein neues Leben in meinem Haus.«
Drittes Buch
Magna
24
Flucht.
Das war das einzige, woran Selene dachte. Fort aus Magna, zurück zu Andreas, zurück auf den Weg, der sie zu ihrer Bestimmung führen sollte.
Das Risiko war groß. Es konnte geschehen, daß sie bei einem Fluchtversuch schon innerhalb der Palastmauern gefaßt werden würde. Jeden, der es wagte, ihr zu trotzen, bestrafte Lasha aufs grausamste. Nur allzu lebhaft erinnerte sich Selene der jungen Zofe, die mit einem Offizier der königlichen Leibwache hatte fliehen wollen – der Mann war kastriert worden; das Mädchen hatte man lebendig begraben. Und selbst wenn es gelingen sollte, aus dem Palast zu entkommen, wartete draußen die weite, unbarmherzige Wüste.
Dennoch wollte Selene es wagen. Die Königin und ihr Heer stummer Wächter würden sie nicht hindern, die Suche nach ihrer Bestimmung wiederaufzunehmen. Die Götter hatten sie auserwählt, das hatte Mera gesagt; und ein sterbender Römer hatte verheißen, daß Selene berufen war.
Wie soll ich meine Berufung in diesem Gefängnis erfüllen? fragte sie sich, während sie durch die Gänge zum Harem eilte. Die eingebildeten Krankheiten verfetteter Hofleute zu pflegen, hatte mit Heikunst nichts zu tun. Selene war überzeugt, daß sie dazu geboren war, Gutes in großem Ausmaß zu bewirken, eine heilige Berufung zu erfüllen. Sie hatte das in jenen Tagen erkannt, als Andreas ihr das Tor zu einer neuen Welt geöffnet hatte. Doch niemals würde sie diesen Traum erfüllen können, wenn sie nicht zu ihm zurückfand und zu dem goldenen Ring, der ihr, wie Mera versprochen hatte, alles sagen würde.
Lasha hatte einen ihrer Liebhaber bei sich, einen jungen Mann, den man aus der Stadt geholt hatte, und mit dem sie den ganzen Nachmittag verbringen würde. Selene ergriff diese Gelegenheiten stets, um in den königlichen Harem zu entfliehen und ihre einzige Freundin zu besuchen, Samia, die Inderin, die genau wie sie zwei Jahre zuvor bei einem Überfall gefangengenommen worden war. In der Abgeschlossenheit und Ungestörtheit des Harems – Selenes Sklavinnen und Sklaven durften diesen Teil des Harems nicht betreten – pflegten die beiden Mädchen, während die anderen Frauen die Hitze des Nachmittags verschliefen, von Flucht zu sprechen.
Selene hatte Samia im Monat nach ihrer ›Hinrichtung‹ wiedergefunden, während der ganze Palast mit den Vorbereitungen zur Wintersonnwende beschäftigt gewesen war. Wie all die anderen gefangenen Mädchen hatte auch Samia nicht vermocht, den König von seiner Impotenz zu heilen, und war daher in den Harem verbracht worden, wo sie von nun an ein Leben in Vergessenheit führte. Beinahe unverzüglich nach ihrem ersten Wiedersehen hatten die beiden Mädchen begonnen, Fluchtpläne zu schmieden, und redeten seither kaum von etwas anderem.
Selene sah sich um. Überall im Palast lauerten Feinde und Spitzel. Schützling der Königin zu sein, war keine Gewähr für Sicherheit, schon gar nicht, wenn man einen Mann zum Feind hatte, der beinahe so mächtig und einflußreich war wie Lasha selbst, der in allen Ecken und Winkeln des Palasts seine Spione hatte, der nur darauf wartete, sich an dem Mädchen rächen zu können, das ihn öffentlich gedemütigt hatte – Kazlah, den Leibarzt.
Sonnenschein strömte durch ein offenes Tor, an dem Selene vorüberkam, und plötzlich überfiel sie eine tiefe Traurigkeit. Der Blick auf den sommerlichen Garten jenseits des Tores erinnerte sie an den Tag, an dem sie Andreas begegnet war. Sie hatte kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag gestanden und geglaubt, ein ganzes wunderbares Leben vor sich zu haben. Und dann – was war geschehen? Ihr Traum war zerplatzt, und ein seltsames Schicksal hatte sie in die
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