Seelenfeuer
Wangenknochen waren mit Goldstaub gepudert, die Mulden unter ihnen geschwärzt. Und die Augen! Das rechte war mit dicken schwarzen Strichen umrandet, Ober- und Unterlid leuchtendgrün gemalt. Das andere Auge fehlte. An seiner Stelle befand sich ein großer Smaragd, der, in Gold gefaßt, mit feinen Goldbändern am Kopf befestigt war. Selene starrte die Königin an.
Eine grobe Hand riß sie wieder auf die Knie, und jemand flüsterte: »Jetzt ist es geschehen. Jetzt bist du des Todes, denn du hast der Königin ins Gesicht gesehen.«
»Was starrst du so?« fragte Königin Lasha.
»Dein Auge, meine Königin«, sagte Selene.
Ein unterdrückter Aufschrei des Entsetzens ging durch die Reihen der Versammelten.
»Bei allen Göttern«, murmelte jemand, und dann senkte sich schreckliche Stille über den Raum. Selbst Kazlah schien vor Furcht wie gelähmt.
»Was ist mit meinem Auge?« Die Stimme der Königin war eisig, ihr Gesicht so starr wie eine Maske aus Marmor.
»Meine Mutter war eine ägyptische Heilerin, meine Königin, in die ältesten Geheimnisse der Heilkunst eingeweiht. Viele Menschen werden in Ägypten von Augenleiden geplagt, wie jeder weiß. Meine Mutter kannte viele Arten und Möglichkeiten der Behandlung.«
Kaum merkliche Bewegung kam in den bis dahin starren Körper der Königin. Sie neigte sich ein wenig vor, so daß das Feuer der Edelsteine, die sie schmückten, funkelnde Reflexe an Wände und Decke warf.
»Was sind das für Behandlungen?« fragte sie.
»Behandlungen gegen Blindheit. In manchen Fällen gibt es Mittel, die Blindheit zu heilen.«
»Und wie wird das gemacht?«
»Mit einer Nadel.«
Immer noch saß Königin Lasha wie eine Statue auf ihrem Thron, und ihre Höflinge wagten kaum zu atmen vor Furcht. Außerhalb der Palastmauern wühlte der Novembersturm den grauen Fluß auf und riß an den Zweigen der königlichen Weiden an seinen Ufern.
Selene hielt den Kopf erhoben und sah die Königin an. Was hatte sie denn getan? Sie hatte nur die Wahrheit gesagt. Mera hatte sie gelehrt, daß ein aufrichtiges Wort aufrichtig gesprochen niemals Schaden bringen würde.
Vier kurze Worte sprach die Königin schließlich, auf die ihre Höflinge reagierten, als hätte der Blitz eingeschlagen. »Du wirst mich heilen.«
Selene erschrak. »Meine Königin, es ist nicht gewiß, daß deine Blindheit von der Art ist, die man heilen kann. Es gibt Leiden, gegen die der beste Arzt nichts ausrichten kann.«
Doch die Königin hatte ihren Entschluß gefaßt. »Du hast das Leben meines Sohnes gerettet. Nun wirst du mir das Augenlicht wiedergeben. Holt den Astrologen«, rief sie scharf. »Er soll die Zeichen lesen.«
»Aber meine Königin«, wandte Selene drängend ein, »selbst wenn die Behandlung mit der Nadel wirkt, wird damit nicht die volle Sehkraft wiederhergestellt.«
»Sehen kann ich«, entgegnete die Königin. »Mit meinem gesunden Auge. Das andere Auge ist entstellt. Diese Entstellung wirst du beheben. Du wirst dafür sorgen, daß ich das Auge nicht länger verbergen muß. Jetzt geh und mach dich bereit.«
Als Selene hinausging, flüsterte Kazlah ihr zu: »Jetzt wirst du es ja sehen. Bei mir warst du sicher, aber dein Hochmut wird dein Tod sein.«
22
»Ich brauche Feuer vom Tempel der Isis«, sagte Selene zu der Sklavin, die man ihr zugeteilt hatte.
Die Sklavin, die stumm war, bedeutete ihr, daß Isis nicht in Magna zu Hause war, und zeigte auf das Abbild des Sichelmondes, das Symbol der Allat, das um ihren Hals hing.
»Dann eben Feuer von eurem Gott.«
Selene mußte sich fast gewaltsam zur Ruhe zwingen, während sie ihre Vorbereitungen traf. Sie war so nervös, daß ihr die Hände zitterten.
Das konnte doch nur ein Zeichen der Götter sein! Ein Zeichen dafür, daß sie sie aus dieser schrecklichen Gefangenschaft erlösen und ihr den Weg in die Freiheit zeigen würden. Ihre Gebete waren erhört worden! Einem Menschen sein Augenlicht wiederzugeben, war etwas Großartiges und Wundersames. Selene zweifelte nicht daran, daß die Königin sie hoch belohnen würde.
Ich werde um meine Freiheit bitten, dachte sie, während sie sich die Hände wusch und die Nadeln und Medikamente für den Eingriff bereitlegte. Ich werde darum bitten, daß man mich zur Straße nach Antiochien bringt, und dann werde ich zu Andreas zurückkehren.
Selene war so selig vor Freude, so begierig, diesem Ort und dem Mann, der sie drei Monate lang gequält hatte, den Rücken zu kehren, daß sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren
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