Seelenfeuer
Erregung verbergen zu können, klappte Selene den Deckel ihres Medizinkastens auf.
Lasha trat in jene Lebensphase ein, wo der Mondfluß allmählich versiegte, und ihr Zyklus unregelmäßig wurde. Während Selene sich an ihrem Kasten zu schaffen machte, sah sie sich im prachtvoll ausgestatteten Schlafgemach nach Spuren des Jünglings um, mit dem Lasha den Nachmittag verbracht hatte. Sie hatte keine Ahnung, was mit den jungen Männern nach einer Zusammenkunft mit der Königin geschah; Lasha pflegte jeden Jungen nur einmal zu gebrauchen. Zu ihren Familien kehrten sie gewiß nicht zurück.
Während Selene einige Tropfen vom Trank der Hekate in einen Becher Wein gab, sah sie zur Terrasse hinaus. Nur ein einziges Mal war sie aus dem Palast in die Stadt gekommen, als Lasha einen Beduinenstamm besucht hatte, der in einer nahegelegenen Oase den Sommer verbrachte.
Gerüchte von ganz besonders geschickten Tänzerinnen, die auf dem Rücken liegend einzig mit Hilfe ihrer Bauchmuskeln Wein von einem Becher in einen anderen gießen konnten, waren Lasha zu Ohren gekommen. Das hatte sie mit eigenen Augen sehen wollen. Und immer wenn Lasha in so eine Laune verfiel – sich ungewöhnliche Darbietungen oder irgendwelche Kuriositäten anzusehen –, pflegte sie mit großem Gefolge auszuziehen. Niemals waren weniger als zweihundert Menschen in ihrem Zug.
Selene war an jenem Tag in einer verhangenen Sänfte gereist, die dem königlichen Palankin folgte, und hatte, während der Zug seinen Weg durch die Stadt nahm, immer wieder die Vorhänge gelüftet, um hinauszuspähen.
Was sie sah, erfüllte sie mit Entsetzen.
Nach monatelangem Leben in Pracht und Überfluß hatte Selene ihren Augen kaum trauen wollen, als sie den Schmutz und das Elend auf den Straßen Magnas sah. Ein Bild war ihr in besonders scharfer Erinnerung geblieben, und es kehrte auch jetzt wieder, als sie der Königin den Becher reichte: die schreiende, wogende Menschenmenge, die sich vor den Toren des Palastes drängte – Krüppel und Bettler, kleine Mädchen mit ausgezehrten Säuglingen in ihren mageren Armen, Männer, denen Arme oder Beine fehlten, deren Augen vereitert, deren Gesichter von Krankheit aufgedunsen waren. Alle drängten sie sich vor dem Palast in der trügerischen Hoffnung, daß die Nähe zur Königin, zur fleischgewordenen Göttin, sie heilen werde.
Später hatte Selene erfahren, daß es in Magna keinen Ort gab, an den diese Menschen sich in ihrer Not wenden konnten. Es gab keinen Tempel des Äskulap, wo ein Kranker für eine Nacht hätte Zuflucht suchen und sich der Hoffnung hätte hingeben können, daß der Gott in seinen Träumen zu ihm kommen und ihn heilen würde. Nur die Reichen konnten sich einen Leibarzt leisten; die anderen – die Leute der Mittelklasse ebenso wie die Armen – hatten niemanden, dem sie sich anvertrauen konnten, wenn sie von Leiden und Krankheit geschlagen wurden.
»Träumst du?« fragte Lasha.
Selene schüttelte den Kopf; sowohl in Antwort auf die Frage der Königin als auch, um sich des niederdrückenden Bildes zu entledigen. Auch in Antiochien hatte sie sich über die Kranken Gedanken gemacht, aber in Antiochien hatte es wenigstens einige Möglichkeiten gegeben, Hilfe zu suchen – den Tempel des Äskulap, Meras kleines Haus, die Villa Andreas’, des Arztes.
Hier könnte ich helfen, dachte Selene und nahm der Königin den Becher ab, um ihn zu spülen. Wenn ich da draußen auf den Straßen wäre, könnte ich wirklich Heilerin sein, anstatt in diesem Käfig zu sitzen und meine ›Wunder‹ zu wirken.
Die Heilung König Zabbais von der Impotenz war kein Wunder gewesen, aber das wußte nur Selene. Nicht einmal Kazlah, der Leibarzt, hatte erkannt, daß das Leiden des Königs auf seine Fettleibigkeit zurückzuführen war.
Mera hatte Selene die Krankheit beschrieben, die die Griechen
diabetes mellitus
nannten und zu deren Erscheinungsbild häufiges Wasserlassen und ein starker Honiggeruch des Urins gehörten. Brach die Krankheit in der Kindheit aus, so bedeutete sie den sicheren Tod; brach sie jedoch erst in reiferem Alter aus, so konnte sie häufig einfach durch Gewichtsabnahme des Kranken gelindert werden. Aus bislang unbekanntem Grund, hatte Mera ihrer Tochter erklärt, führte Fettleibigkeit beim Erwachsenen manchmal zur Erkrankung an Diabetes; daher konnte Gewichtsabnahme in manchen Fällen die Krankheit zum Stillstand bringen.
Als Selene sich im Beisein von siebzig Bediensteten, Ärzten und Höflingen den König
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