Seelenfeuer
das erstemal angesehen hatte, war ihr völlig rätselhaft gewesen, was ihm fehlte. Doch als man ihr die Symptome beschrieben hatte – übermäßiger Durst, ständiges Hungergefühl, häufiges Wasserlassen –, war Selene eingefallen, was Mera sie gelehrt hatte. Sie hatte den Urin des Königs geprüft und festgestellt, daß er so süß war wie Honig. Zabbai litt in der Tat an Diabetes, und da Selene wußte, daß diese Krankheit Impotenz verursachen konnte, sagte sie sich, wenn man der Krankheit entgegenwirkte, würde man vielleicht auch die Impotenz heilen können.
Zabbai wurde also auf strenge Diät gesetzt. Die Fettpolster an seinem Körper schrumpften, und sechs Monate später vollzog er zum erstenmal seit zwei Jahren wieder den Beischlaf.
Noch andere ›Wunder‹ hatte Selene gewirkt: Der alte Wesir der Königin litt monatelang an schrecklichem Kopfjucken; Selene heilte ihn mit einem Haarwaschmittel aus Schwefel und Zedernöl davon. Die geschwollenen Gelenke des Obereunuchen waren erfolgreich mit dem Trank der Hekate behandelt worden. Der beunruhigende Durchfall des kleinen Prinzen war mit einer Reisdiät zum Stillstand gebracht worden.
Es hatte auch einige echte Leiden im Palast gegeben, die Selene nur zu gern behandelt hatte, aber die meisten waren eingebildet, die Produkte von Langeweile und Untätigkeit. Im Palast der Königin sah sie sich in die Rolle der Zauberin gedrängt, ohne etwas dagegen tun zu können; draußen auf den Straßen jedoch hätte sie ihrem wahren Beruf nachgehen und viel Gutes tun können.
Die Königin betrachtete Selene mit starrem Blick. Sie war stolz auf die Schönheit ihrer Augen und pflegte sie seit der gelungenen Operation, mit Belladonnatropfen aus Selenes Medizinkasten noch größer und glänzender zu machen. Diese Droge erweiterte die Pupillen, und das gab Lashas Blick etwas Befremdliches – als könnten ihre Augen mehr sehen als andere.
Lasha betrachtete Selene mit einer Mischung aus Neid und Groll. Dieses einfache Mädchen verfügte über große Macht, eine Macht, die Lasha für sich selbst begehrte. Nicht die Macht über Leben und Tod – die hatte Lasha schon –, sondern die Macht über den Schmerz, die sie als etwas viel Wichtigeres betrachtete. Die eine Seite dieser Macht stand Lasha schon zu Gebote – die Macht, Schmerz zu bereiten. Dieses Mädchen jedoch, das unter den Ärmsten der Armen gelebt hatte, besaß die Macht, Schmerz zu
lindern,
und das war etwas weit Wundersameres.
Sie weiß noch nicht, dachte Lasha, welche Macht sie über mich hat – die Macht, mir Schmerzlinderung zu gewähren oder zu verweigern. Sie ahnt noch nicht, daß ich eine Gefangene bin, eine Gefangene der Schmerzen, die mein Körper hervorbringen kann. Nichts, nicht einmal der Tod, ist so beängstigend für mich wie unaufhörlicher Schmerz. Dieses Mädchen aus der Gosse, das unwissend und weise zugleich ist, hat keine Ahnung, welche Höhen sie dank ihrer Macht erklimmen könnte. Aber eines Tages wird sie es wissen. Wenn sie älter geworden ist, wird sie erkennen, wie ohnmächtig ich der Schwachheit meines Fleisches unterworfen bin, und wenn dieser Tag kommt, werden unsere Rollen sich umkehren. Dann wird sie die Herrscherin sein, und ich die Untertane. Wird sie eines Tages versuchen, diese Macht gegen mich auszuspielen?
»Fortuna«, sagte Lasha mit ihrer scharfen Stimme. »Die Römer treffen in zwei Wochen ein. Du hast das gewiß schon gehört, denn diese Mauern haben ja nicht nur Ohren, sondern auch Zungen. Und wenn die Römer kommen, wird der ganze Palast in Aufruhr sein. Du wirst doch keine Dummheiten machen, Fortuna? Wie zum Beispiel einen Fluchtversuch?«
Sie sah, wie Selene erstarrte und dachte, also habe ich recht.
»Ich mache mir Sorgen um dich, mein Kind«, fuhr Lasha fort und erhob sich, ein Standbild in Rot und Gold, von ihrem Prunkbett. »Ich fürchte manchmal, daß die Einsamkeit dich allzu sehr bedrückt. Ich sehe Rastlosigkeit in deinen Augen. Du bist schließlich fast achtzehn Jahre alt. Und du bist immer noch unberührt, nicht wahr?«
Selene kannte jede tödliche Nuance von Lashas Ton. Sie wußte, daß Hinterlist in diesem Augenblick ihre Worte bestimmte. Und noch etwas anderes …
Ich habe das Leben ihres Sohnes gerettet, dachte Selene. Ich habe ihr das Augenlicht wiedergegeben. Ich habe ihren Gemahl von der Impotenz geheilt, so daß sie keinen neuen Gatten zu nehmen brauchte. Und sie haßt mich. Sie haßt mich, weil sie mir dankbar sein muß. Die Königin steht
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