Seelenfeuer
sie das Mondzeichen Allats auf seiner Stirn machte. Sie wollte ihm tröstende Worte sagen, von ihrem Fluchtplan berichten, aber sie wagte es nicht. Die Priesterinnen waren gegangen, aber wer sagte ihr, daß nicht eine von ihnen hinter der Tür stand und lauschte?
Darum legte Selene, nachdem sie das letzte heilige Zeichen auf seiner Brust gemacht hatte, statt dessen ihre Finger auf das hölzerne T-Kreuz, das in der Mulde seines Halses ruhte, und sah ihm fest in die Augen. Dein Gott wird dich nicht verlassen, sagte sie lautlos, und Wulf senkte die Lider.
Ein schwaches Klirren veranlaßte Selene, sich umzudrehen. Die Königin war aufgestanden, eine Göttin in seidenen Gewändern so farbenfroh wie ein sommerlicher Garten. Es war das Zeichen zum Beginn des Tanzes. Selene zog sich an ihren Platz an der Mauer zurück. Wulf blieb, wo er war, die Augen auf die Königin gerichtet.
Es war ein alter Tanz, den Lasha jetzt begann, so alt, daß kein einzelnes Volk seine Erfindung für sich in Anspruch nehmen konnte. Es war ein Tanz, dessen Botschaft von allen Stämmen und Kulturen verstanden wurde. Im Osten nannte man ihn den Tanz des Shalomé, in den semitischen Sprachen das Wort für ›willkommen‹. Der Name bezog sich auf die uralte Sage, wonach die Göttin Ishtar in die Unterwelt hinabstieg und bei ihrer Wiederkehr den willkommenen Frühling und die Erneuerung des Lebens mitbrachte. Die sieben Schleier, die Lasha während des Tanzes nacheinander ablegte, repräsentierten die sieben Tore der Hölle, die Ishtar durchschritten hatte, ehe sie wiedergekehrt war. Es war ein verführerischer, erotischer Tanz, ein geschmeidiges Spiel von Bauch und Hüften, das die Tänzerin in die Ekstase und die Vereinigung mit der göttlichen Kraft führen sollte.
Lasha wiegte und schlängelte sich in fließenden Bewegungen, und die Schleier fielen einer nach dem anderen von ihrem Körper ab. Sie begleitete sich mit Fingerschellen und dem Klatschen ihrer bloßen Füße auf dem Steinboden. Ihr Körper glänzte, ihre Muskeln spielten unter der glatten Haut. Sie tanzte für Wulf. Sie tanzte um ihn herum, ging vor ihm auf die Knie, ließ ihre Arme wie Zwillingsschlangen an seinem Körper hinaufgleiten. Ihre Hüften und Schenkel bewegten sich in den ekstatischen Zuckungen des Liebesakts, ihr Bauch wölbte und senkte sich in der Darstellung von Wehen und Geburt, ihre nackten Brüste wogten und zitterten lebenverheißend.
Lashas Augen waren weit geöffnet, aber sie sahen nichts, da die Priesterinnen ihr vor Beginn des Rituals einen Trank aus heiligen Pilzen gereicht hatten. Die Bilder, denen sie folgte, waren nicht von dieser Welt, die Leidenschaft, die in ihr brannte, ging über fleischliches Begehren nach dem blonden Barbaren hinaus. Lasha war eins mit der Göttin; sie tanzte für die Mondfrau, sie tanzte für das Leben.
Als der Tanz zu Ende war, rührte sich Selene nicht gleich. Dann aber eilte sie rasch zur Königin, half ihr auf das Bett, rieb ihr Arme und Beine mit den Ölen Allats ein, machte die heiligen Zeichen auf ihren Brüsten, ihrem Bauch und ihren Schenkeln. Sie bemühte sich, klar und ruhig zu denken. Sie mußte jetzt sehr vorsichtig sein.
Ihre Mutter hatte ihr das Verfahren vor langer Zeit gezeigt. Sie hatte es stets angewendet, wenn sie Patienten behandeln mußte, die mit den üblichen Säften oder Tränken nicht betäubt werden konnten. Große, starke Männer, die auch auf den stärksten Schlaftrank nicht ansprachen, konnte man durch die einfache, aber nicht gefahrlose Anwendung anatomischen Wissens in Bewußtlosigkeit versenken.
Mera hatte Selene gezeigt, wo sich die großen Blutgefäße des Halses befanden, eben dieselben, die Kazlah ihr in der Operationskammer gezeigt hatte. Man mußte ihren pulsenden Schlag mit den Fingerspitzen ertasten, und konnte selbst den stärksten und größten Mann in tiefen Schlaf versetzen, indem man auf beide große Adern gleichzeitig Druck ausübte. Drückte man zu lange, hatte Mera gewarnt, so trat der Tod ein; drückte man nicht lange genug, so dauerte der Schlaf nur Minuten.
Während Selene die Königin massierte und ihr den Schweiß vom Körper wischte, näherte sie ihre Hände langsam Lashas Hals. Dort ließ sie sie einen Moment liegen und fühlte nach dem Puls der großen Schlagadern, dann, gewiß, daß sie beide Blutgefäße unter ihren Fingern hatte, drückte sie behutsam.
Die Augen der Königin öffneten sich in flüchtigem Erstaunen, ihre Lippen öffneten sich in stummem Protest.
Weitere Kostenlose Bücher