Seelenfeuer
Visionen erschreckend; nach einer Weile beachteten sie sie nicht mehr, und bald verschwanden die Trugbilder ganz. Ihre Welt schrumpfte wieder auf die Realität des finsteren Ganges, der Wärme ihrer Hände, die einander festhielten, der Furcht, die sie miteinander teilten.
An jeder Kreuzung roch die Luft gleich, leere Monotonie, die nichts enthielt, weder Salz der Erde noch Süße sommerlicher Himmel; die vor allem nicht den geringsten Hauch von Schwefel enthielt.
Wir werden hier sterben, dachte Selene merkwürdig distanziert.
Da riß Wulf plötzlich an ihrer Hand, gab ihr ein Zeichen. Sie drehte sich um und erstarrte.
Ein Geruch. Ein ekelhafter Geruch nach faulen Eiern. Der Schwefel!
Selene versuchte zu bestimmen, woher der Geruch kam. Erst ging sie den einen Gang hinunter; als sie merkte, daß der Geruch schwächer wurde, drehte sie um und ging in die andere Richtung. Dort wurde er stärker. Endlich hatten sie den ersten Gang gefunden, in den etwas von den Schwefeldämpfen eingedrungen war. Sie folgten dem Geruch durch die Dunkelheit, machten kehrt, wenn sie in einen Gang gerieten, in dem die Luft sauber war, suchten begierig die stinkenden Dämpfe.
Je stärker der Geruch wurde, desto heftiger wurde ihre Erregung. Weiter, immer weiter folgten sie dem Geruch, eilig jetzt und ungeduldig. Selene machte Wulf begreiflich, daß der Geruch ihr Leitfaden zur Freiheit war, und er blieb dicht hinter ihr, vertraute ihr, obwohl er nicht wußte, warum sie – die bei Hof eine so hohe Stellung zu bekleiden schien – fliehen wollte, obwohl er nicht wußte, was sie am Ende des Weges erwartete.
Was sie erwartete, als sie die letzte Ecke umrundet hatten, war Kazlah.
Abrupt blieben sie stehen. Der Leibarzt, in einer Hand eine Fackel, in der anderen den Schwefelbrocken, versperrte ihnen den Weg. Sein Gesicht war ausdruckslos, zeigte weder Zorn noch Überraschung über das plötzliche Auftauchen Selenes und Wulfs.
Wulf stand dicht hinter Selene. Sie konnte den Hauch seines Atems in ihrem Nacken spüren. Er war groß und kräftig. War er auch flink? War er schlau genug, um Kazlah zu übertölpeln? Und wer wartete auf der anderen Seite der Tür? Der Tür zur Freiheit …
Im flackernden Schein der Fackel maßen sich die beiden Gegner. Und immer noch machte Kazlah keine Anstalten, etwas zu tun. Er sagte kein Wort, machte keine Bewegung, stand nur da, den Schwefelbrocken in der Hand, und sah Selene an.
Da begriff sie. Er würde die Initiative nicht ergreifen. Und wenn sie bis in alle Ewigkeit hier standen. Selene wußte, was Kazlah wollte. Jetzt blieb nur eine Frage: Welchen Preis war er zu zahlen bereit?
Sie spürte, wie Wulf hinter ihr unruhig wurde. Sollte sie ihn versuchen lassen, den Leibarzt zu überwältigen? Würde es ihm gelingen? Oder würde er scheitern und damit seinen und ihren Tod besiegeln?
Die harten Augen Kazlahs fixierten sie. Selene mußte sich entscheiden. Sie sandte ein Stoßgebet zu Isis und sagte dann leise: »Der Trank der Hekate wird aus Weidenrinde bereitet. Man brüht sie in heißem Wasser, bis es die Farbe von starkem Tee annimmt, und stellt den Aufguß dann kalt. Zehn Tropfen in Wein gegen monatliches Unwohlsein, zwanzig bei Gelenkschwellungen und Fieber. Ein Tropfen direkt auf einen schlimmen Zahn gegeben betäubt den Schmerz.«
Die Augen des Leibarzts blitzten flüchtig auf. Selene hielt den Atem an. Dann trat er zu ihrer Überraschung zurück, drehte sich um und schritt den dunklen Gang hinunter.
Selene sah ihm nach, bis das Licht seiner Fackel nur noch ein glimmender Funke war, dann stürzte sie zur Tür. Nachdem sie flüchtig gelauscht hatte und nichts hören konnte, drückte sie gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht. Wulf trat neben sie und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den schweren Steinquader. Leise knarrend öffnete sich die Granittür, und kühle Nachtluft wehte ihnen in die Gesichter.
28
Sie waren gelaufen und gelaufen – sie wußte nicht, wie viele Meilen –, bis sie dem Zusammenbruch nahe waren. Es war erstaunlich einfach gewesen, aus dem Palastbezirk zu entkommen – aller Aufmerksamkeit war auf die Vorgänge im Tempel gerichtet gewesen. In der Stadt jedoch mußten sie vorsichtiger sein. Sie stahlen sich durch Magnas dunkle Straßen, wie sie sich vorher durch die finsteren Gänge des Labyrinths gestohlen hatten – tastend, spähend, an jeder Ecke lauschend –, bis sie das Stadttor erreichten. Es war zur Nacht geschlossen gewesen, doch Wulf hatte mit
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