Seelenfeuer
auf den Steinboden, und der Deckel klappte auf. Fläschchen, Beutelchen, Verbandzeug und Nahtmaterial rollten heraus. Die Priesterinnen tauschten Ausrufe des Schreckens – das konnte doch nur ein schlechtes Omen sein! –, doch ehe sie etwas beschließen konnten, lag Selene schon auf den Knien und versuchte hastig, die Sachen einzusammeln. Als die Priesterinnen sich bückten, um ihr zu helfen, stiftete Selene weitere Verwirrung, indem sie wie in Achtlosigkeit viele Gegenstände wegstieß. Fläschchen rutschten davon, eine Kette zerriß und ihre Perlen rollten nach allen Richtungen auseinander, und in der allgemeinen Verwirrung, während Selene erregt rief, daß alles gefunden werden müsse, und die ängstliche Besorgnis der Priesterinnen wuchs, wandte sie sich von ihren Begleiterinnen ab und zog aus ihrem Gürtel das, was sie vorher dort verborgen hatte.
Die Priesterinnen suchten und sammelten die verlorenen Gegenstände und mühten sich bei erregtem Wortwechsel mit fliegenden Händen, sie in den Medizinkasten einzuordnen, und derweilen rieb Selene ihren Schwefelbrocken auf dem rohen Stein und entzündete einen Funken. Sobald das geschehen war, fuhr sie herum und gab ihren Begleiterinnen zu verstehen, daß sie weiter müßten.
Wieder von den Priesterinnen geführt, eilte Selene fort von dem Schwefelbrocken, ohne sich bewußt zu sein, daß sich nun die Prophezeiung der Seherin vom Tempel der Isis in Antiochien erfüllte.
Die uralte Steinkammer verkörperte den Schoß und die Unterwelt, Mahnung an den zweifachen Aspekt der Göttin als Herrin über Leben und Tod. Die Göttin, Lasha, war anwesend, wartete von Kopf bis Fuß in sieben Schleier gehüllt, die die sieben Tore der Unterwelt und die sieben Sphären des Himmels symbolisierten. Die Schleier waren so kunstvoll um ihren Körper gewickelt, daß nur ihre Augen zu sehen waren.
Man führte Selene herein und nahm ihr die Binde von den Augen. Blinzelnd spähte sie durch den Dunst von Fackellicht und Weihrauch und glaubte zunächst, eine Statue zu sehen, die auf einem Thron saß. Dann erkannte sie, daß es Lasha war, die Tochter der Göttin.
Sobald die Priesterinnen sich zurückgezogen hatten und die Tür geschlossen war, ging Selene ans Werk. Sie nahm die Mittel aus ihrem Medizinkasten, die sie brauchen würde: Öl von grüner Minze zur Erfrischung der Königin nach dem heiligen Tanz; ein Pulver aus zerstoßenem Seidenspinner zur Bereitung eines Tranks, der die Potenz des prinzlichen Gatten steigern sollte. Bereit waren auch das weiße Tuch und die Schale mit Wasser zum Abwaschen des blutigen Dolches.
Das Klirren der Sistra jenseits der Tür kündigte ihr das Nahen des Opfergatten an. Nach Beginn des Rituals, hatte ihr Kazlah erklärt, würden sich die Priesterinnen in den Tempel zurückziehen, um dort zu wachen, bis die heilige Handlung vollendet war. Dann sollte Selene sie holen. Doch wenn alles nach Plan ablief, würde Selene sie niemals holen; wenn sie anfingen, sich über Selenes Ausbleiben zu wundern, würde sie längst weit draußen in der Wüste sein, auf dem Weg in die Freiheit.
Sie richtete sich auf und wandte sich zur Tür. Ihr Herz raste, ihre Handflächen waren feucht. Es war unangenehm stickig in der heiligen Kammer. Lautlos schwang die Tür auf, und zwei Priesterinnen führten das Opfer herein, dessen Augen verbunden waren. Als ihm die Binde abgenommen wurde, blickte Selene direkt in zwei verwirrte blaue Augen.
Wulf war es, der Barbarenhäuptling, der mit gebundenen Händen vor ihr stand. Den Bart hatte man ihm abgenommen, sein weißer, zernarbter Körper war gewaschen und parfümiert, aber er war immer noch in Leder und Pelz gekleidet.
Selene hatte den Sklaven in den vergangenen zwei Wochen des öfteren im Palast gesehen, wenn sie unter Bewachung zur Königin geführt worden war. Immer hatte Wulf geschwiegen. Jetzt fürchtete Selene, daß Kazlah ihren Betrug entdeckt und dafür gesorgt hatte, daß der Barbar zum Opfergatten erkoren worden war, um sie beide zu strafen.
Während sie die Fesseln an seinen Handgelenken löste und mit Öl die heiligen Zeichen der Göttin auf seinen Körper malte, versuchte sie, seinem Blick auszuweichen. Aber es gelang ihr auf Dauer nicht. Und als sie ihm schließlich in die Augen sah, war sie tief bestürzt.
Sie sah keine Bitterkeit in ihnen, keinen Zorn und keinen Haß gegen die, die ihn mißbrauchten. Nur Schmerz und Trauer spiegelten sich in ihnen. Er weiß, daß er sterben muß, dachte Selene, während
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