Seelenfeuer
Hilfe eines gestohlenen Seils die Mauer erklommen und Selene mit sich hinaufgezogen.
Jenseits dehnte sich die weite Wüste mit all ihren Gefahren.
Sie hetzten von Düne zu Düne, da sie wußten, wie hell der Vollmond auf sie herunterschien, wie leicht sie in seinem Licht auszumachen waren. Und als sie endlich die kahlen Felsen hinter der Stadt erreichten, hörten sie aus der Ferne das Schmettern der Trompeten, das ihnen sagte, daß man Alarm geschlagen hatte. Die Jagd hatte begonnen. Sie ahnten beide, daß Lasha keine Ruhe geben würde, bis sie gefunden waren.
Felsige Hänge und steinige Schluchten bildeten den unwirtlichen Bergrücken südöstlich von Magna, der von Höhlen und Spalten durchschossen war. Trotz ihrer Erschöpfung schleppten sie sich weiter, hoch hinauf zu einem kahlen Plateau und wieder hinunter in eine tiefe Schlucht, wo sich hinter einer kleinen Öffnung im Fels eine mäßig große Höhle auftat. Wortlos zwängten sie sich hinein und ließen sich keuchend, mit schmerzenden Gliedern auf den sandigen Boden fallen. Selene rührte sich nicht mehr von der Stelle, wollte nur noch schlafen, doch Wulf hob sie auf und trug sie taumelnd ans hintere Ende der Höhle, wo sie nicht so leicht zu entdecken waren. Dort legte er sie nieder und bedeckte sie mit seinem Körper. Sie schliefen augenblicklich ein.
Der Medizinkasten lag vergessen am schmalen Tor der Höhle.
Die Morgensonne, die blendend in die Höhle fiel, weckte sie, und kaum hatten sie den Schlaf abgestreift, da hörten sie von draußen Hufgetrappel und gedämpfte Stimmen. Wulf setzte sich auf und blickte zur Höhlenöffnung. Als Selene etwas sagen wollte, drückte er ihr die Hand auf den Mund.
Reglos, mit angehaltenem Atem hockten sie da und lauschten dem Treiben vor der Höhle. Es gab keinen Zweifel, daß die Reiter dort draußen – und es waren viele – von Lasha ausgesandt waren, sie zu suchen. Sie hörten ihre gedämpften Rufe, während sie jeden Spalt und jede Höhle inspizierten. Immer näher kamen Hufschlag und Stimmen.
Selene, deren Augen sich mittlerweile an das grelle Licht gewöhnt hatten, entdeckte plötzlich etwas, das sie verblüffte. Eine Spinne hatte mit weitgespanntem Netz das ganze Höhlentor versiegelt. Sie mußte in den wenigen Stunden, als Selene und Wulf geschlafen hatten, fleißig bei der Arbeit gewesen sein. Wie gebannt starrte auch Wulf jetzt auf das feine Gespinst, das sich im leichten Morgenlüftchen leise bewegte.
Die Soldaten Lashas kamen näher. Durch den zarten Schleier sahen Selene und Wulf die Beine der Pferde, hörten das Gemurmel der Männer. Und dann hörte Selene mit tiefer Erleichterung einen Mann sagen: »Nein, da drin doch nicht. Schau dir das Spinnennetz an. In der Höhle ist seit Monaten keiner mehr gewesen.«
Sie sah, wie die Pferde dicht an der Höhle vorüberschritten, ohne anzuhalten. Der Hufschlag wurde leiser, die Stimmen entfernten sich. Lange saßen sie und Wulf stumm und bewegungslos, kaum fähig, ihrem Glück zu glauben. Erst als weit und breit kein Laut mehr zu hören war, richtete sich Wulf langsam auf und kroch zum Eingang der Höhle. Mit scharfem Augen spähte er in die Schlucht hinaus und lauschte in die Stille. Dann gab er Selene mit einer Geste zu verstehen, daß die Soldaten verschwunden waren.
Sie kroch zu ihm, und gemeinsam bestaunten sie das Spinnennetz, das sie gerettet hatte. Als Selene murmelte: »Die Göttin behütet uns«, hob Wulf die Hand und umfaßte das Zeichen des Odin. Selene nickte lächelnd. »Ja, vielleicht war es dein Gott, der uns gerettet hat.«
Sie hockte sich auf die Fersen und betrachtete ihren fremdartigen Gefährten. Er erschien ihr wie ein wildes, ungebärdiges Tier, das kaum gezähmt war. Wie würde er sich jetzt verhalten, wo er wieder frei war, aller Fesseln ledig? Vielleicht würde er in sein Barbarentum zurückfallen; vielleicht würde er davonlaufen und sie in der Wüste im Stich lassen.
Schön war er in Selenes Augen nicht, dazu waren seine Gesichtszüge zu grob und zu fremdartig, dennoch ging eine starke Anziehungskraft von ihm aus. Besonders jetzt, wo der wilde Bart entfernt und das kantige Gesicht glatt rasiert war. Was war er für ein Mensch? Aus was für einer seltsamen Welt kam er, wo die Männer ihr Haar so wirr und wild trugen und sich in Wolfsfell kleideten? Mit gekreuzten Beinen, die Arme locker auf den Knien aufliegend, saß er da und sah sie an. Das blonde Haar, das stellenweise noch geflochten war, fiel ihm über die Schultern
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