Seelenfeuer
und berührte seine Schenkel. Im Morgenlicht konnte Selene die zahllosen Narben sehen, die seine nackte Brust und seine Arme bedeckten. Ein Krieger.
Selene wandte den Blick ab und starrte hinaus in die unwirtliche Landschaft jenseits des Spinnennetzes. Mit einem Seufzer sagte sie leise: »Ja, nun müssen wir wohl weiter.«
Zu ihrer Überraschung öffnete Wulf den Mund und sagte etwas in einer Sprache, die Selene nicht verstand.
»Du kannst sprechen!« rief sie. »Du hast verstanden, was ich dir da unten in dem entsetzlichen Verlies sagen wollte. Ach, ich hatte solche Angst. Ich dachte, Kazlah hätte dich vielleicht ein zweites Mal dorthin geschleppt und du wärst wirklich stumm.«
Wieder sprach Wulf in den fremdartigen, gutturalen Lauten, die Selene nicht verstand.
»Ich spreche leider nur griechisch und aramäisch«, sagte sie entschuldigend. »Und du sprichst wohl nur deine eigene Sprache. Ach, macht nichts. Hauptsache, wir sind entkommen. Ich würde gern wissen, warum Kazlah uns gehen ließ …«
Wulf unterbrach sie mit einem einzigen Wort und wies zum Höhlentor.
Selene nickte. »Du meinst, wohin wir von hier aus ziehen wollen? Für mich gibt es nur eine Richtung. Nach Westen. Nach Antiochien. Zu Andreas …«
Selene verstummte. Erst jetzt kam ihr voll zu Bewußtsein, was sie geschafft hatten – die Flucht aus dem Palast von Magna. Frei! Endlich frei! Nach zwei Jahren der Gefangenschaft kann ich endlich nach Hause!
Sie hatte ihren Weg wieder vor sich, konnte endlich die Verfolgung ihres Zieles wiederaufnehmen. Die Rückkehr zu Andreas. Der Beginn eines neuen Lebens an seiner Seite. Mit ihm wollte sie lernen, mit ihm gemeinsam jenen helfen, die der Hilfe so dringend bedurften. Und sie wollte ihre Wurzeln finden und ihre Bestimmung.
Wulf stand auf, klopfte sich den Sand ab und hob den Medizinkasten auf. Nachdem er ihn sich über die Schulter geschwungen hatte, bot er Selene die Hand. Sie nahm sie, und er zog sie in die Höhe.
»Jetzt gehen wir nach Hause«, sagte sie. »Ich bin sicher, wir werden den Weg finden. In meinem Medizinkasten habe ich etwas Proviant versteckt. Damit können wir ein paar Tage durchhalten. Und unter meinen Arzneien sind stärkende Kräuter, die uns in der Wüste Kraft geben werden. Und dann habe ich noch das hier.« Sie berührte die goldene Kette mit den blutroten Rubinen, die Lasha ihr zwei Jahre zuvor um den Hals gelegt hatte. »Mit diesem Halsband können wir Nahrung und Unterkunft bezahlen, vielleicht sogar die Reise mit einer Karawane.«
Als Wulf das Spinnennetz wegfegte und in die Sonne hinaustrat, dachte Selene, im Herbst bin ich wieder zu Hause …
Viertes Buch
Babylon
29
Fatma wurde langsam unruhig. Das Fest hatte bei Sonnenuntergang begonnen, und Umma, die Heilerin, war immer noch nicht da. Umma wollte unbedingt lernen, wie man Wollfett aus der Schafwolle gewann. Als Gegenleistung wollte sie Fatma in weitere Geheimnisse ihres wunderbaren Medizinkastens einweihen. Nun aber hatten die Frauen, die diese Arbeit stets mit einem Fest verbanden, sich bereits ans Werk gemacht. Fatma verstand nicht, warum Umma nicht gekommen war.
Mit einer Entschuldigung zu ihren Schwestern und Cousinen, die lachend und singend über dem Wasserbottich knieten und die Schafwolle kneteten, stand sie auf und ging zum Eingang ihres Zeltes, um hinauszuschauen. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über das Wüstenlager schweifen. Unpünktlichkeit und Vergeßlichkeit war sie von Umma nicht gewöhnt.
Sie bewunderte diese junge Frau, die einen schier unersättlichen Wissensdurst zeigte. Alles, was ihr neu war, wollte sie ergründen und lernen, und als der Beduinenstamm vor einigen Tagen endlich dieses Sommerlager erreicht und mit der Schafschur begonnen hatte, war Umma zu Fatma gekommen und hatte gefragt, ob ihr die Frauen nicht zeigen könnten, wie man der Schafwolle das Wachs entzog, und in welchem Verhältnis man dieses Wachs mit tierischem Fett mischen mußte, um eine Grundlage für medizinische Salben und Cremes herzustellen. Da die Gewinnung des Wollfetts Frauenarbeit war, die nur einmal im Jahr anfiel, machten die Frauen sie immer zu einem heiteren Fest, bei dem sie sich mit ihrer Schafwolle und ihren Wasserbottichen in einem der Zelte versammelten und bei Wein und Schwatz die Wolle wuschen. Diesmal war auch Umma zu dem Fest eingeladen worden; sie sollte beim Schrubben der Wolle helfen und später beim Abschöpfen des Fetts aus dem Wasser, das viel Geschicklichkeit erforderte.
Doch es
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