Seelenflüstern (German Edition)
Erlösungsbericht auch später führen. Aber wie wir das Versprechen erfüllen wollen, müssen wir jetzt gleich überlegen.«
»Bericht? Ich dachte, du müsstest etwas für die Schule schreiben.«
»Nein. Für mich ist die Schule vorbei, Lilian. Abgeschlossen. Die Ausbildung endet, sobald der Seelenflüsterer wieder erscheint.«
Ich lehnte mich an die geschlossene Tür. »Aber sagtest du nicht etwas von einem Fernstudium?«
»Nein. Ich habe gesagt, dass meine Eltern glauben, ich würde so was machen. In Wirklichkeit erledige ich unseren Schreibkram. Das gehört mit zu meinen Aufgaben. Es wird alles schriftlich festgehalten: welche Trends es geradebei den Problemen der gestrandeten Seelen gibt; wie lange die Erlösungen dauern – solches Zeug eben.«
Ich schnappte nach Luft. »Das ist doch ein Witz. Statistiken über Untote und ihre Wehwehchen?«
Alden ließ sich wieder auf der Bettkante nieder. »Mmhm. Der RF hat dafür sogar eine eigene Abteilung.«
»Und was ist an solchen Informationen so fruchtbar wichtig?«
»Die Bevölkerungszahl wächst. Das heißt natürlich auch, dass mehr Menschen sterben und dass es mehr Gestrandete gibt. Der Rat der Fürsprecher sorgt dafür, dass immer genügend Seelenflüsterer zur Verfügung stehen. Inzwischen ist unsere Truppe viel größer als beim letzten Zyklus, in dem du aktiv warst.«
Schon wieder diese Rose. »Ich habe so was noch nie gemacht«, flüsterte ich. Statistiken. Berichte. In was für einer Welt war ich da bloß gelandet?
»Wir sind nun mehr Einsatzteams als je zuvor.«
»Ich kann mir das Werbeplakat direkt vorstellen. ›Seelenflüsterer gesucht: Vorerfahrung nicht notwendig. Todessehnsucht und Freude an Schmerzen erwünscht.‹«
Alden grinste. »Ja, so ähnlich.«
»Okay. Was müssen wir sonst noch erledigen, um unser Erlösungsprojekt zu Ende zu bringen?« Ich zupfte am Saum meines Tops herum.
Alden ließ sich mit der Antwort Zeit. »Wir müssen das Versprechen einlösen, das wir Suzanne gegeben haben. Solange du morgen in der Schule bist, gehe ich ins Krankenhaus und versuche, ihre Adresse herauszubekommen. Wobei ich allerdings nicht weiß, ob das klappt. Solche Daten sind normalerweise unter Verschluss. Aber ab und zu kann ich die Leute so bequatschen, dass ich doch etwas herausbekomme.«
Ich hob eine Augenbraue. »Das kann ich mir vorstellen.«
Er stand auf und ging zur Tür. »Bitte lass dein Handy an. Ich hole dich von der Schule ab, damit wir den Vorgang abschließen können.«
»Ist das ein Befehl?«
»Nein. Es ist eine Bitte. Eine Einladung. Lilian, darf ich dich bitte von der Schule abholen, damit wir Suzannes Fall zu Ende bringen können?« Sein Lächeln hätte einen Stein schmelzen lassen.
»Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.«
Noch lange nachdem er gegangen war, saß ich auf dem Bett und starrte Dads Gitarre an, die in der Ecke stand. Die Melodie, die Zak für mich geschrieben hatte, ging mir durch den Kopf. Wenn ich die Augen schloss, sah ich, wie er auf dem Couchtisch saß und mir mit diesem Lied sein Herz schenkte.
»Was mache ich da eigentlich, Dad?« Mit angehaltenem Atem wartete ich auf eine Antwort, die nicht kam. Doch tief in meinem Inneren kannte ich sie längst.
S E C H Z E H N
D er Uhrzeiger im Klassenzimmer bewegte sich in Zeitlupe. Wir hatten mal wieder Geschichte. Ich versuchte still zu sitzen und wünschte mir, ich könnte die Uhr mit der Kraft meiner Gedanken schneller laufen lassen, damit ich Alden endlich wiedersah. In der vergangenen Nacht hatte ich kaum geschlafen.
Vielleicht stimmte das, was Alden sagte, und eine Seelenflüsterin zu sein war tatsächlich ein Geschenk.
»Hilf mir«, flüsterte die Stimme einer Frau in meinem Ohr.
Ein Geschenk mit ein paar Schattenseiten.
»Sie hat es gestohlen.« Wieder die unsichtbare Stimme.
»Jetzt nicht. Geh weg«, flüsterte ich.
»Du musst mir helfen, es wiederzubekommen.«
»Geh und spuk jemand anderem im Kopf herum. Jetzt nicht, habe ich gesagt!«
»Miss Anderson?« Die ganze Klasse starrte mich an. »Gibt es ein Problem?«, fragte Miss Mueller.
»Ehm, nein, Ma’am.« Ich versuchte immer, möglichst unsichtbar zu sein und nicht aufzufallen. Verlegen rutschte ich auf dem Stuhl herum, während alle mich anstarrten.
»Mit wem haben Sie denn gerade gesprochen, Miss Anderson?« Miss Mueller watschelte zu mir an den Tisch.Sie hatte Kaffeeflecken auf ihrer gepunkteten lavendelfarbenen Bluse. Anscheinend machte es ihr Spaß, mich vor der ganzen
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