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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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gerade das Haus hatte verlassen wollen, blieb stehen. Sie versuchte zu verstehen, was gesprochen wurde, doch sie konnte nur die hohe Stimme des Kindes und die gedämpftere Entgegnung eines Erwachsenen, wohl der Mutter, unterscheiden. Hastig ging sie noch einmal nach oben. Von dort waren die Stimmen kaum mehr zu hören. Dann öffnete sich die Tür, und Clara wich in den Flur zurück, um von unten nicht gesehen zu werden. Das Kind plapperte jetzt lauter und mit durchdringender Stimme, dann hörte man die Haustür ins Schloss fallen, und es war wieder Stille.
Clara nickte nachdenklich und speicherte in ihrem Kopf den Gedanken, der ihr soeben gekommen war. Sie musste die Akte diesbezüglich noch einmal überprüfen. Dann machte sie sich ebenfalls daran, das Haus zu verlassen. Sie hatte keine Lust, jemand zu begegnen. Außerdem musste sie weiter. Es gab noch einen Ort, den sie sich ansehen wollte, bevor es dunkel wurde.
     
    Der Weg verlief direkt am Englischen Garten entlang, am Osterwaldgarten, einem beliebten Wirtshaus mit wunderschönem Biergarten, vorbei und unter dem Mittleren Ring hindurch. Die Unterführung war verlassen, und die mit Graffiti besprühten Betonwände warfen Claras Schritte hallend zurück. Elise, die trotz ihrer Größe ein echter Angsthase war, klemmte sich den Schwanz zwischen die Beine und drückte sich eng an Clara. Sie mochte keine Geräusche, die sie nicht orten konnte. Und dieser dunkle Tunnel, über den der Verkehr rauschte, war ihr äußerst unsympathisch.
    Clara tätschelte den großen grauen Kopf ihres Hundes und lächelte. »Eigentlich solltest du mich beschützen und nicht umgekehrt, weißt du? Hunde machen das für gewöhnlich so.«
    Aber es gab nichts, wovor jemand hätte beschützt werden müssen. Bis auf einen weiteren einsamen Spaziergänger, der ihnen in der Unterführung entgegenkam, war der Weg wie ausgestorben. Der Spaziergänger, ein Mann mit einer grauen Mütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, stockte einen Augenblick, als er Clara und ihren großen Hund bemerkte, und Clara griff mit einer beruhigenden, wenngleich vollkommen überflüssigen Geste nach Elises Halsband, um ihm zu signalisieren, dass sie alles im Griff hatte und von dem Hund trotz seiner Größe keine Gefahr drohte. Sie kannte solche
oder ähnliche Reaktionen auf ihre Dogge, und sie hatte es längst aufgegeben, ihren Mitmenschen wortreich zu erklären, dass Elise vollkommen harmlos war. Der Mann reagierte jedoch nicht. Er blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete starren Blickes, wie Clara und Elise an ihm vorbeigingen. Auch ihr besänftigendes Lächeln und ihr Nicken erwiderte er nicht. Seine Augen waren hell und wässrig und sahen irgendwie merkwürdig aus.
    Na gut, dann eben nicht. Clara zuckte die Achseln. Als sie aus der Unterführung hinaustraten, ließ sie Elises Halsband los und vergrub die Hände wieder tief in den Manteltaschen. Sie gingen die menschenleere Straße entlang, vorbei an der alten Lodenfrey-Fabrik und den ehemaligen Werkshäusern, die man zu Wohnungen umgebaut hatte. Es war weiter, als sie gedacht hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte, um warm zu werden, und Elise, die offenbar ihren Widerwillen gegen diesen Spaziergang endlich überwunden hatte, verfiel in einen leichtfüßigen Trab, hin und wieder von ein paar übermütigen Galoppsprüngen zur Seite unterbrochen, wenn sie einen Vogel im nahen Gebüsch vermutete. Als Clara endlich an der Biegung ankam, wo der Spazierweg abzweigte, begann es bereits zu dämmern. Der klare Himmel über der Stadt hatte eine violette Färbung angenommen und wirkte noch kälter und distanzierter als tagsüber. Die Kiesel unter Claras Füßen knirschten wie Scherben, als sie den Weg bis zum Ufer des Baches entlangging. Ruhig und spiegelglatt war das Wasser hier, kaum eine Bewegung war auszumachen, und an den flachen Rändern, wo der Bach bereits zugefroren war, glitzerte das Eis wie dunkles Glas. Das diffuse Zwielicht der Dämmerung verstärkte noch den Eindruck von Kälte und Verlassenheit.
    Clara blieb stehen und sah sich um. Warum war die Leiche
hierhergebracht worden? An diesen merkwürdigen Ort? Wie war der Täter darauf gekommen? Aus Zufall? Das war kaum vorstellbar. Clara spähte die Böschung hinunter. Hier unten im Gestrüpp hatte man die Tote gefunden. Clara hatte die Fotos, die sich in der Akte befanden, noch genau im Kopf. Außer einem Rest Absperrband, das noch an einem Baumstamm hing, gab es keinen Hinweis darauf, dass hier eine

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