Seelenglanz
an die flüssige Lava heran. Ich versuchte Abstand zwischen die Wand und meinen Rücken zu bringen.
Schreiend und weinend flehte Jules Luzifer an, mich freizulassen, doch der schüttelte nur den Kopf. »Behalte ihn gut in Erinnerung«, riet er. »Siehst du den Schmerz in seinen Augen? Vergiss ihn niemals, denn er hat ihn deinetwegen auf sich genommen. Was für eine Verschwendung von Ressourcen – und das wegen eines Mädchens.«
Ich wollte ihr sagen, dass sie mich vergessen und ihr Leben leben solle, doch bevor ich Gelegenheit dazu bekam, bewegte Luzifer einmal kurz seine Hand und Jules war fort. Für immer aus meinem Leben verschwunden, das sich ab sofort im Fegefeuer abspielen würde.
Luzifers Handlanger zogen weiter an den Ketten, bis ich mich nicht mehr wehren konnte und mein Rücken gegen den Fels gepresst wurde. Zischend fraß sich der glühende Lavastrom in mein Fleisch und ich begann zu schreien.
32
Schwungvoll, als hätte ihr jemand einen heftigen Tritt verpasst, stürzte Jules zu Boden. Sie wartete auf den Schmerz, der unweigerlich folgen musste, nachdem sie sich die Handflächen an dem kantigen Fels aufgeschürft hatte, doch er blieb ebenso aus wie die Berührung mit dem harten Stein. Stattdessen trafen ihre Finger auf etwas Weiches, Nachgiebiges. Teppichboden.
Verstört sah sie sich um. Sie war zurück im Motel, doch das Zimmer und die Möbel blieben verschwommen. Alles, was sie in voller Deutlichkeit vor sich sah, waren Kyriels versteinerte Miene und der Schmerz, der sich in seine Augen gebrannt hatte wie die glühenden Eisenbänder in seine Handgelenke. Mein Gott, allein der Geruch des verbrannten Fleisches war unerträglich gewesen! Wie musste es sich erst für ihn angefühlt haben? Beinahe noch schlimmer jedoch war das Geräusch, das sie verfolgte. Jener knirschende, reißende Laut, als Luzifer ihm seine Flügel ausgerissen hatte.
Seine wunderschönen Flügel.
Jules blieb auf dem Boden sitzen und weinte. Sie weinte um Kyriel und um das, was er für sie geopfert hatte. Weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte und sich so leer und allein fühlte, wie noch niemals zuvor in ihrem Leben.
Sie war so dumm gewesen! Sie hatte ihm helfen, ihn retten wollen. Stattdessen hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht und ihm sein Leben auf die schrecklichste Weise genommen, die sie sich vorstellen konnte.
Für mich gibt es ohnehin keinen Ort mehr, an den ich gehen kann. Seine Worte wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zu Luzifer konnte er nicht zurück, doch er schien auch zu glauben, dass es bei den Engeln keine Zukunft für ihn gab. Nicht, wenn sie erfuhren, was wirklich hinter seinemvermeintlichen Seitenwechsel steckte. Jules schüttelte den Kopf. Er mochte sich aufgegeben haben. Sie war dazu noch nicht bereit.
Sie konnte nicht in dem Wissen weiterleben, dass er Tag für Tag aufs Neue unendliche Qualen in dieser Feuerhölle erleiden musste! Das konnte er unmöglich von ihr erwarten!
Entschlossen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Ihr erster Impuls war es, nach ihrem Handy zu greifen, doch das hatte Shandraziel bereits in Seattle in ein Häufchen Asche verwandelt. Die Visitenkarte mit Rachels Telefonnummer hatte sie mit ihren anderen Sachen im Wellford Palms Resort zurücklassen müssen. Zum Glück gab es noch andere Wege.
Von neuem Tatendrang erfüllt klemmte sie sich ans Telefon und ließ sich über die Auskunft zu Rachel durchstellen.
Nach dem fünften Klingeln meldete Rachel sich mit einem müden »Hallo?«.
»Rachel, hier ist Jules. Ich muss dringend Akashiel sprechen, kannst du mir seine Nummer geben?«
»Er ist bei mir, ich gebe ihn dir. Ist etwas passiert?« Es war spät, aber noch nicht so spät, dass es Rachels erschöpften Tonfall erklärt hätte. Sie klang niedergeschlagen, beinahe so, als wäre etwas Schlimmes vorgefallen.
In der Leitung knackte es und einen Moment später erklang eine männliche Stimme an ihrem Ohr. »Jules? Ist alles in Ordnung?«
Sie war so erleichtert, ihn zu hören, dass ihr erneut die Tränen kamen. Mühsam drängte sie sie zurück, konnte jedoch ein Schluchzen nicht unterdrücken. »Nichts ist in Ordnung«, brachte sie hervor. »Kyriel … er … dieser furchtbare Dummkopf hat sich für mich geopfert und …«
Sosehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Ereignisse der letzten Stunden in vernünftigeSätze zu packen. Was sie Akashiel erzählte, klang selbst in ihren Ohren konfus und zusammenhanglos. Sie
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