Seelenglanz
Kyriels unterdrücktes Stöhnen, als er ihm die Flügel ausgerissen hatte. Abrupt brach die Erinnerung ab.
»Du musst dich konzentrieren.«
Das war nicht leicht. Sie war immer noch durcheinander, und alles noch einmal zu durchleben machte es nicht besser. Du musst es tun! Für Kyriel! Jules schloss die Augen und versuchte es noch einmal. Wann immer sie sich jedoch den Raum vorstellen wollte, in dem sie Kyriel an die Wand gekettet hatten, verschwamm das Bild wieder. Schließlich konzentrierte sie sich auf die Höhle mit Luzifers Thron, was ihr bedeutend leichter fiel. Das Erste, was beinahe greifbar die Luft zu erfüllen schien, war der Schwefelgeruch. AlsNächstes verspürte sie die Hitze, als wäre sie noch immer dort.
»Du kannst die Augen wieder aufmachen.«
Blinzelnd sah Jules sich um. Es hatte geklappt! Die Hitze war nicht ihrer Erinnerung geschuldet gewesen, sondern dem Umstand, dass Akashiel sie in die Höhle gebracht hatte. Verwundert und ein wenig erschrocken sah sie sich um, doch Akashiel hatte recht behalten: Außer ihnen war niemand hier.
Trotzdem zog er sie von der Mitte der Höhle fort in den Schutz der Wand, von wo aus sie durch den Zugang nicht gesehen werden konnten. Er ließ sein Schwert sinken. »Das hast du sehr gut gemacht. Kannst du mir noch den Weg zu Kyriel beschreiben, bevor ich dich zurückbringe?«
»Zurückbringen? Das kommt nicht infrage. Ich werde nicht auch noch dich meinen Mist ausbaden lassen!«
Akashiel sah sie lange an. Dann seufzte er. »Kyriel wird mir den Arsch aufreißen, wenn er mitbekommt, dass ich dich hier in Gefahr bringe.«
Jules zuckte die Schultern. Kyriel konnte sie anschreien, so viel er wollte, solange es ihnen nur gelang, ihn zu befreien. Dann erinnerte sie sich an etwas anderes. »Die Akte!« Sie lief zu Luzifers Thron, um ihre Akte vom Tisch zu holen, doch der Stapel, der zuvor dort gelegen hatte, war fort. Ratlos sah sie sich in der Höhle um, ohne einen Platz zu entdecken, an dem die Unterlagen hätten sein können.
Akashiel war am Durchgang stehen geblieben, das Schwert bereit, wanderte sein Blick zwischen Jules und dem Eingang hin und her. »Dein Vertrag?«
Sie nickte. »Er ist nicht mehr hier.«
»Dann lass uns Kyriel suchen. Vielleicht weiß er, wo Luzifer seine Trophäen aufbewahrt.«
Mit einem letzten Blick auf die leere Tischplatte kehrtesie zu Akashiel zurück und verließ mit ihm die Höhle durch denselben Ausgang, durch den Luzifer sie zuvor geführt hatte. Obwohl die Gänge verwinkelt waren, war es nicht schwer, den Weg zu der anderen Kammer zu finden. Zweimal rechts, einmal links, mehr war es nicht.
»Nur noch um diese Ecke«, sagte Jules, »dann …«
Akashiel riss sie zurück, ehe sie dem Gang um die Kurve folgen und ihren Satz vollenden konnte. Sie wollte protestieren, doch sie brachte keinen Ton hervor. Es fühlte sich an, als wären ihre Stimmbänder gelähmt. Der Schutzengel zog sie ein Stück von der Abzweigung fort und schob sie in eine Nische. Sein Blick war auf den Gang gerichtet. Nur langsam dämmerte es Jules, dass er dieses Schweigen über sie gelegt haben musste. Dann hörte sie die Stimmen.
»Zwei Wachen«, flüsterte Akashiel. Als sie keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fügte er hinzu: »Du kannst wieder sprechen, ich habe eine Kuppel über uns gelegt, die unsere Geräusche abschirmt.«
Um ein Haar wäre sie diesen Kerlen geradewegs in die Arme gelaufen. Himmel, sie musste wirklich vorsichtiger sein! Wenn Akashiel nicht gewesen wäre …
Jules schluckte ihren Schrecken herunter. »Okay, was machen wir jetzt?«
»Ich werde dich für einen Moment allein lassen«, erklärte er, und bevor sie protestieren konnte, fügte er hinzu: »Ich versetze mich kurz hier raus, um sicherzustellen, dass die beiden erwartet werden.«
»Was meinst du mit erwartet ? Was machen wir danach?«
»Das erkläre ich dir, sobald wir die beiden los sind.« Er ließ sein Schwert im Nichts verschwinden und schob Jules so dicht wie möglich an die Wand heran. »Rühr dich nicht vom Fleck. Leider kann ich dich für sie nicht unsichtbar machen, aber ich verspreche dir, ich bin gleich zurück.«
Dann löste er sich vor ihren Augen in Luft auf.
Sie fragte sich, ob sie sich je daran gewöhnen würde, dass diese Engel kommen und gehen konnten, wann immer sie wollten. Sie fragte sich auch, wie viele Gefallene, außer den beiden Wachen, sonst noch hier unten unterwegs waren. Und wie lange es dauern würde, bis einer hier vorbeikam. Luzifers Höhle
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