Seelenglanz
sie sich nicht mehrfach von oben bis unten abgeschrubbt hatte. So lange, bis mit dem Seifenwasser auch die Erinnerung an Hudsons Berührungen im Abfluss versickert war.
Was sich nicht vertreiben ließ, war die Erinnerung an Shawn Raziel, der ihr einen Ausweg angeboten hatte, unddas Auftauchen dieses … Was war der Kerl überhaupt? … dieses Typen, der mit einem Schlag all ihre neu gewonnene Hoffnung zunichtegemacht hatte.
Was glaubte dieser Kerl, wer er war, dass er sich ungefragt in ihr Leben einmischen konnte? Allein dieses Grinsen, das er die ganze Zeit über zur Schau gestellt hatte – als glaubte er allen Ernstes, er könne sich auf diese Weise bei ihr einschmeicheln! Und dann diese Selbstgefälligkeit im Park. Er hatte doch tatsächlich die Frechheit besessen, sich über ihre mangelnde Dankbarkeit zu beklagen.
»Mangelnde Dankbarkeit!«, schnaubte sie. »Das muss man sich mal vorstellen!«
Einen undankbaren Wicht hatte er sie genannt.
Der Zorn half Jules, nicht in Panik zu verfallen, denn ganz gleich wie arrogant und selbstverliebt dieser Kerl auch wirken mochte, es ließ sich nicht leugnen, dass er sie nicht nur den ganzen Tag über verfolgt hatte, sondern auch in ihrem Zimmer aufgetaucht war.
Der Gedanke daran, wie er aus dem Nichts im Park erschienen und aus ihrem Zimmer ins selbe Nichts verschwunden war, machte ihr Angst.
Warum hatte sie ihn nicht bemerkt? Trotz der Musik hätte sie ihn doch hören müssen, davon war sie überzeugt. Noch immer glaubte sie ein Prickeln an ihrem Fuß zu spüren, dort wo er sie berührt hatte, um auf sich aufmerksam zu machen. Es war kein angenehmes Gefühl, sondern eines, das sie daran erinnerte, wie schutzlos sie ihm ausgeliefert gewesen war. Wenn er es darauf angelegt hätte, ihr etwas anzutun, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen.
»Er hätte mir sonst was antun können«, flüsterte sie, noch immer kaum imstande, das volle Ausmaß dessen, was hätte passieren können, zu begreifen. »Warum habt ihr keinen Alarm geschlagen?«
Sie sah sich nach dem Rattenkäfig um, verwundert darüber, dass von dort kein Laut zu hören war. Für gewöhnlich waren Jekyll und Hyde die Ersten, die sich über einen Eindringling in ihrem Zimmer beklagten und Radau schlugen – selbst dann, wenn es sich bei diesem Eindringling um Jules’ Mutter handelte.
Im schwachen Schein der Nachttischlampe war es schwer, etwas hinter den Gitterstäben zu erkennen. Als Jules näher an den Käfig herantrat, hörte sie gedämpfte kratzende Laute. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass das Geräusch nichts mit scharrenden Pfoten zu tun hatte. Die Ratten schnarchten!
Das war kein gutes Zeichen und bestätigte sie in ihren Befürchtungen, dass die beiden ernsthaft krank waren. Als Jules einen Blick in den Käfig warf, sah sie Hyde mit der Schnauze im Fressnapf liegen und Jekyll vor dem Gitter, das Gesicht in der Streu. Das Fell der Nager war halb gesträubt, und als sie genauer hinsah, versuchte Hyde gerade auf die Beine zu kommen. Mit mäßigem Erfolg.
Nachdem sie seine Versuche eine Weile beobachtet hatte, öffnete sie den Käfig, griff hinein und stellte ihn auf die Beine. Hyde bedachte sie mit einem langen Blick, als versuchte er etwas herauszufinden, dann streckte er sich ausgiebig und wankte in seine Schlafhütte. Jekyll war mittlerweile selbst wieder auf die Beine gekommen und folgte seinem Kameraden in den Unterschlupf.
»Was ist nur los mit euch?« Hoffentlich konnte ihr der Züchter morgen weiterhelfen.
Jetzt gab es jedoch ein vordringlicheres Problem, mit dem sie sich auseinandersetzen musste: der Typ auf dem Dach.
So gerne sie sich in ihr Bett verkriechen, sich die Decke über den Kopf ziehen und ihn vergessen wollte, so sicher war sie, dass das nichts bringen würde. Wenn sie nicht zuihm auf das Dach kam, würde er sie weiter verfolgen. Verflucht, so wie es aussah, konnte er an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit auftauchen! Dieses Wissen ließ die Aussicht auf künftige Badezimmeraufenthalte wenig reizvoll erscheinen. Was, wenn er früher aufgetaucht wäre? Als sie noch unter der Dusche gestanden hatte! Hätte er sie im Bad überrascht oder in ihrem Zimmer auf sie gewartet? So wie er sich bisher gegeben hatte, war ihm alles zuzutrauen.
Vermutlich sollte sie Angst vor ihm haben. Nicht nur dass er sie zu verfolgen schien, er war auch in ihre Wohnung eingebrochen. Nein, nicht eingebrochen – sie wusste nicht, wie er hereingekommen war, aber er hatte die Wohnung
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