Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
Vom Netzwerk:
ich auch den MP3-Player, der beinahe vollständig in der Hand des Jungen verschwand – eine Hand, die selbst für einen Halbstarken ungewöhnlich war. Nicht zart, das waren Hände, die harte Arbeit gewohnt waren, aber überraschend zierlich. Ich betrachtete sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, die unregelmäßigen Atemzüge verrieten jedoch, dass er nicht schlief. Seine Züge waren jetzt frei von Zorn und wirkten deutlich weicher als vorhin. Fast hätte man meinen können, der Kurze sei gar kein … Mein Blick wanderte über sein Gesicht nach unten und blieb am Oberteil des ausgewaschenen roten Pyjamas hängen, unter dem sich die Umrisse seines Körpers abzeichneten. Wie zum Henker hatte mir das entgehen können? Der Kurze war ein Mädchen!
    Großartig. Dann konnte ich mich wohl auf eine geballte Ladung Hysterie gefasst machen, wenn ich ihr offenbarte, dass sie nicht nur ein Mädchen, sondern auch ein halber Engel war. Die Sache mit dem Mädchensein würde sie wohl nicht allzu überraschend treffen.
    Schlagartig war mir die Lust vergangen, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Der bloße Gedanke an das Kreischen, die Tränen und – noch schlimmer – das ungläubige Gekicher, war so abschreckend, dass ich entschied, mich erst einmal in Ruhe umzusehen, bevor ich mich meiner Aufgabe stellte.
    Ich verließ das Zimmer durch die Tür. Um Jules nicht auf mich aufmerksam zu machen, verzichtete ich jedoch darauf, die Tür zu öffnen, wechselte stattdessen mit meinem Körper auf eine andere Ebene und glitt lautlos durch das Holz hindurch. Der Flur, in dem ich mich daraufhin wiederfand, war klein und schäbig, die spärlichen Möbel waren alt und die Teppiche reichlich fadenscheinig.
    Ich konnte noch immer nicht fassen, dass der Kurze gar kein Kurzer war. Und dass ich es nicht schon früher bemerkt hatte. Andererseits war das unter den Schlabberklamotten, in denen sie den ganzen Tag über herumgelaufen war, unmöglich gewesen. Sicher, ich hätte mir ihr Gesicht ein wenig genauer ansehen können oder die Hände. Vielleicht hätte ich dann früher Verdacht geschöpft. Andererseits machte es keinen Unterschied, wenn man mal von dem hysterischen Gekreische absah, das mich erwartete.
    Ich setzte meinen Streifzug durch die Wohnung fort. Viele der Möbel sahen aus, als stammten sie vom Sperrmüll. In einem Schlafzimmer, das genauso schäbig war wie der Rest der Wohnung, lag eine Frau. Dem Alter nach vermutlich Jules’ Mutter. Die Luft war abgestanden und stank nach Alkohol. Auf dem Nachttisch stand eine halb volle Wodkaflasche. Eine weitere lag neben dem Bett auf dem Boden, darüber hing die Hand der Frau über den Rand der Matratze hinaus, als wäre ihr die Flasche entglitten, nachdem der Schlaf sie übermannt hatte.
    Ich sog die Luft ein, atmete sie mit all meinen Sinnen und tastete mich unter dem oberflächlichen Schnapsgeruch vor. Die Frau war krank. Schwer krank. Sie stank nicht nur nach Alkohol, sondern auch nach Tod. Bei ihrem Anblick empfand ich einen überraschenden Anflug von Mitleid – nicht für die Frau, aber für die Tochter, die sie zurücklassen würde.
    Der Rest der Wohnung unterschied sich nicht von dem, was ich bisher gesehen hatte. Es war mit Abstand die armseligste Bruchbude, die mir je untergekommen war. Kein Wunder, dass der Kurze – die Kurze – Geld brauchte. So wie es hier aussah, waren Jules und ihre Mutter so arm, dass sie bald den Putz von den Wänden fressen würden. Immerhin war es sauber, was vermutlich nicht der Mutter zu verdanken war.
    Ich hatte genug gesehen und kehrte in Jules’ Zimmer zurück. Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen da und bemerkte mich nicht, was mir die Gelegenheit gab, mich auch hier umzusehen.
    Das Zimmer war klein und mit einem schmalen Schrank, dem Bett, einer Kommode und einem Schreibtisch ziemlich vollgestopft. Überall stapelten sich Bücher, und auf dem Schreibtisch lag vor dem PC ein aufgeschlagener Block mit Notizen. Physik. Die Menschen glaubten immer noch, alles wissenschaftlich erklären zu können. Keine Ahnung, warum sie sich so sehr daran klammerten, die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln. Nicht einmal ich kannte sie alle – und ich konnte gut damit leben. Es war wie in jeder Firma: Die Bosse wussten mehr als die Angestellten. Immerhin hatte ich eine Ebene erreicht, auf der ich in ziemlich vieles eingeweiht war. Der Rest war zu verschmerzen.
    Ein Fiepen lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Käfig, der auf der Kommode

Weitere Kostenlose Bücher