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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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in die Tiefe gestürzt hatte! Erwar kein lebensmüder Selbstmörder, sondern … sondern … ja, was eigentlich?
    Jules konnte ihn nur anstarren. Er war groß und athletisch gebaut, mit breiten Schultern und einer schlanken Taille. Der eng anliegende, schwarze Pullover konnte die Muskeln nicht verbergen, die sich darunter abzeichneten. In Kombination mit der verwaschenen Bluejeans und den schwarzen Schnürschuhen war es ein ausgesprochen ungewöhnlicher Look für ein geflügeltes Was-auch-immer.
    Engel , raunte ihr eine Stimme aus ihrem Unterbewusstsein zu, doch Jules schob den Gedanken beiseite. Ein Engel mit schwarzen Flügeln? Wohl kaum!
    Der Wind zerrte an seinem dunkelbraunen Haar und trieb ihm immer wieder einzelne Strähnen ins Gesicht – ein Gesicht, dem sie zum ersten Mal wirklich Beachtung schenkte. Lag es an den Flügeln oder hatte er auch vorher schon so unglaublich gut ausgesehen? Seine Züge waren weich und gefällig. Die Überheblichkeit, die er in ihrem Zimmer an den Tag gelegt hatte, war daraus verschwunden und hatte einem Ausdruck von Freundlichkeit Platz gemacht. In seinen Augen lag eine Wärme, die sie erstaunte. Überhaupt waren die Augen das Auffälligste an ihm. Je nachdem, wie er den Kopf hielt und in welchem Winkel das Licht auf seine Iris traf, schien sich ihre Farbe zu verändern. Während er sie musterte, wechselte sie von einem tiefen Moosgrün zu Grünbraun, und als er den Kopf neigte, schimmerten sie wie Bernstein.
    Erst jetzt wurde Jules bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie zwang sich Luft zu holen und gab sich dabei alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr sein Auftauchen sie überwältigte – kein leichtes Unterfangen angesichts der Tatsache, dass er sie mit seinem Auftritt wortwörtlich umgehauen hatte.
    Mit dem Sauerstoff, der ihre Lungen jetzt wieder erreichte, schien auch ihr Gehirn seine Arbeit wieder aufzunehmen. Dieser Kerl mochte umwerfend aussehen, er mochte sogar Flügel haben, doch abgesehen davon, dass sie noch immer nicht wusste, wer – und was – er war, erschien ihr sein Gesicht wie eine Warnung. Typen wie ihn hatte sie während ihrer Zeit im Hudsons kennengelernt: Es war das Gesicht eines Mannes, der um sein gutes Aussehen wusste und sich dieses Wissen zunutze machte. Ein Gesicht, das es vermochte, die wahren Absichten hinter einem verführerischen Lächeln zu verbergen.

11
    Ich stand mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Dach und blickte auf das Mädchen hinab, das vor mir auf dem Hintern gelandet war und mich seit einer gefühlten Ewigkeit anstarrte. Wobei mir der Begriff Mädchen nicht mehr treffend erschien. Solange ich gedacht hatte, sie sei ein Junge, hatte ich sie wegen der feinen Haut und des fehlenden Bartwuchses für ein Milchgesicht im Teeniealter gehalten. Jetzt jedoch fragte ich mich, warum mir nicht viel früher aufgefallen war, dass ich es nicht mit einem pubertierenden Wicht, sondern mit einer jungen Frau von Anfang zwanzig zu tun hatte. Allein ihre fein geschnittenen Züge hätten mir die Wahrheit verraten müssen, ganz zu schweigen davon, dass sie für einen Jungen viel zu zierlich gebaut war. Selbst ihre zerzauste, schwarze Mähne wirkte jetzt, da ich die Wahrheit kannte, deutlich weiblicher als vorhin.
    Das Ganze wäre ein gefundenes Fressen für Akashiel. Du musst deiner Arbeit mehr Aufmerksamkeit schenken , hörte ichihn dozieren. Dann aber erinnerte ich mich daran, dass er Jules ebenfalls für einen Jungen gehalten hatte, und konnte mir ein Grinsen nur mit Mühe verkneifen. Es sah ganz danach aus, als wäre ich nicht der Einzige, dessen Aufmerksamkeit zu wünschen übrig ließ.
    Mein Vorhaben, ihr die Neuigkeiten über ihr Nicht-Mensch-Sein schonend beizubringen, konnte ich angesichts meines geflügelten Auftritts wohl in den Wind schießen. Immerhin hatte ich bisher noch keinen Laut von ihr gehört, wenn man mal von den heftigen Atemzügen absah, die einer Schnappatmung gefährlich nahekamen. Wie hätte ich auch ahnen können, dass sie sich ausgerechnet in dem Augenblick entschloss, doch noch auf das Dach zu kommen, als mir das Warten zu dumm geworden war. Ich hatte nicht mehr mit ihr gerechnet und wollte die Nacht für einen Flug nutzen, statt mich sofort nach Hause zu versetzen. Als ich ihre Anwesenheit bemerkte, war ich bereits im Begriff gewesen abzuspringen und hatte den Sprung nicht mehr aufhalten können. Ich hatte meine Flügel erst im freien Fall entstehen lassen, sodass Jules sie auf dem Dach noch nicht gesehen

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