Seelenglanz
Wenn sie herausfinden, wer er ist, werden sie ihm seine Flügel nehmen und ihn zum Teufel jagen.« Ich liebte dieses Wortspiel und konnte es mir nie verkneifen. Als ich jedoch Jules’ Entsetzen sah, fügte ich versöhnlich hinzu: »Immerhin hat er etwas Gutes getan: Er ist gegangen, um dich zu schützen. Wäre er in der Nähe geblieben, hätte es vermutlich nicht allzu lange gedauert, bis seine Verfehlungen Oben bekannt geworden wären und sie dich aufgespürt hätten.«
»Also hat er mir das Leben gerettet.« Es waren ihre ersten Worte seit längerer Zeit, und sie klangen so lächerlich hoffnungsvoll, dass ich mir auf die Zunge beißen musste,um ihr nicht entgegenzuschleudern, dass er trotz allem ein Feigling war. Wenn er wirklich gewollt hätte, hätte er einen Weg gefunden, sie dennoch zu sehen. Andererseits war es vermutlich die einzige Verfehlung, die dieser Kerl je begangen hatte, und ihm fehlte es an der nötigen Erfahrung und Gerissenheit, sein Tun zu verschleiern. Nicht jeder verfügte über meine Fähigkeiten, wenn es darum ging, andere zu täuschen und in die Irre zu führen.
»Kann ich fliegen?«, wollte sie plötzlich wissen.
»Bis zum Aufprall auf dem Boden müsste es problemlos klappen.« Sie sah mich so verständnislos an, dass ich Mühe hatte, nicht loszulachen. »Nein«, sagte ich schnell, ehe sie auf die Idee kam, sich vom nächsten Dach zu stürzen, um es auszuprobieren, »du kannst nicht fliegen. Überhaupt wirst du erst nach deinem Tod zum Nephilim.«
»Wie soll das gehen?«
»Das Konzept nennt sich Wiedergeburt. Klappt bei Buddhisten und Halbengeln. Okay, bewiesen ist es eigentlich nur bei Halbengeln – ob die anderen es können, ist wohl deren Betriebsgeheimnis.«
Ich konnte sehen, wie sie sich bemühte, meinen Worten zu folgen, doch ihr Blick war mittlerweile so abwesend, dass ich schon erwartete, jeden Moment würde ein kleines Männlein in ihren Augen auftauchen und darin ein »Vorübergehend geschlossen«-Schild aufhängen.
Es verging eine ganze Weile, während sie erst mich, dann den angebissenen Muffin auf ihrem Teller und schließlich wieder mich anstarrte. »Bin ich unsterblich … also nach dem ersten Tod, meine ich?«, presste sie schließlich hervor.
»Jein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Alter und Krankheiten können dir dann nichts mehr anhaben. Wenn du dich verletzt, spürst du den Schmerz, doch deine Wunden werden heilen, und das schneller als gewöhnlich. Allerdingskannst du getötet werden – nicht von Menschen, aber von Engeln, Gefallenen oder anderen Nephilim.«
Jules nickte. Wieder starrte sie mich an, dann machte sie sich über den Muffin her. Sobald sie ihn vertilgt hatte, griff sie nach ihrem Kaffee, leerte den Becher mit ein paar großen Schlucken und stellte ihn auf den Tisch zurück.
»Okay«, sagte sie schließlich und wirkte plötzlich vollkommen ruhig. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen muss, oder war es das? Kann ich mein Leben jetzt weiterführen?«
Sie mochte noch so cool und gelassen tun, innerlich war sie weiterhin vollkommen in Aufruhr. Dass sie nach einer Serviette griff und anfing, sie in winzige Stücke zu zerlegen, war der beste Beweis dafür. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr helfen konnte. Tatsächlich war ich erstaunt, dass ich das überhaupt wollte. Vermutlich hatte ich einfach keine Lust mehr, mich länger mit diesem verwirrten, Fragen stellenden Menschen abzugeben. Allerdings wusste ich jemanden, der das für mich übernehmen konnte.
»Komm mit«, sagte ich und stand auf.
»Wohin?«
»Du hast sicher viele Fragen, und ich kenne jemanden, der sie dir besser beantworten kann als ich.«
Auf dem Weg zur Tür rief ich Bernie einen Abschiedsgruß zu. Jules folgte mir ohne ein weiteres Wort nach draußen, zurück in die Gasse, in der wir angekommen waren. Sobald die Schatten uns einhüllten, schlang ich einen Arm um ihre Taille – wieder erstarrte sie unter meiner Berührung – und versetzte mich mit ihr zu der einzigen Person, die mir sinnvoll erschien: zu Rachel. Sie war die Nephilim gewesen, die die Riesen aus ihrem Gefängnis befreit hatte.
Es war mitten in der Nacht, doch zu meinem Erstaunen fand ich sie weder in ihrem noch in Akashiels Bett.Stattdessen lagen die beiden eng umschlungen in Rachels Wohnzimmer auf der Couch und schliefen. Es wäre mir lieber gewesen, einen Sabberfaden aus Akashiels Mund laufen zu sehen, statt das zufriedene Lächeln zu beobachten, das auf seinen Lippen lag. Schlimmer als ein altes
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