Seelenglanz
fand schnell heraus, dass es nicht ratsam war, im Berufsverkehr zu sehr in Gedanken zu versinken. Zumindest nicht, wenn sie nicht ständig angerempelt oder gar beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren werden wollte. In der Bank gab es keine Wartezeiten, sodass ihr auch hier kaum Zeit zum Nachdenken blieb. Ehe sie sichs versah, saß sie im Klassenzimmer und wartete darauf, dass der Unterricht begann.
Im Raum war es still und stickig, Staubpartikel schwebten im Licht der Neonröhren wie im Traktorstrahl eines Raumschiffes. Der Geruch von Kreidestaub und feuchten Lappen hing in der Luft. Unglücklicherweise ließen sich die Fenster nicht öffnen, und die alte Klimaanlage, die in einer Ecke stand und ratternd ihren Dienst versah, verströmte nur muffige Feuchtigkeit.
Jules holte ihre Unterlagen aus der Tasche und schlug sie auf. Sie hatte einiges an Stoff nachzuholen und wollte die verbleibenden Minuten bis zum Unterrichtsbeginn so gut wie möglich nutzen, doch schon nach wenigen Sekunden schweiften ihre Gedanken erneut ab. Sie musste an ihren Vater denken, den Mann, den sie all die Jahre für ihr Scheißleben verantwortlich gemacht hatte. Ein Mann, von dem sie bisher ein vollkommen falsches Bild gehabt hatte– zumindest was seine Herkunft anging. Hatte sie ihm unrecht getan? War er ein Opfer der Umstände und der himmlischen Gesetzgebung gewesen? Oder war er einfach nur ein Feigling, der sein eigenes Wohl über das seiner Familie gestellt hatte?
Laut Kyriels Theorie war er vermutlich gegangen, um sie und ihre Mutter zu schützen. Aber wenn man jemanden wirklich liebte, konnte man ihn dann wirklich so einfach zurücklassen?
Ihre Mutter hatte immer nur davon gesprochen, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte. Davon, dass er gehen musste, um sie nicht in Gefahr zu bringen, war nie die Rede gewesen. Vielleicht hatte ihre Mutter ihr die Wahrheit verschwiegen, weil Jules damals noch zu jung gewesen war, um es zu verstehen. Andererseits schienen der Hass und die Verbitterung ihrer Mutter echt zu sein. So wie es aussah, hatte sie nicht die geringste Ahnung, mit wem sie sich eingelassen hatte – und auch nicht, warum er gegangen war. Sein Weggang war für sie ein Schlag gewesen, von dem sie sich nie wieder erholt hatte.
Um Jules herum füllte sich das Klassenzimmer allmählich. Menschen begrüßten sie, riefen ihr etwas zu, ohne dass sie mitbekommen hätte, was es war. Jules reagierte wie ferngesteuert, nickte und winkte den Leuten zu, nahm sie aber nicht wirklich wahr. Der Unterricht zog an ihr vorbei, ohne dass sie sich auf den Stoff oder die Worte des Lehrers konzentrieren konnte. Zweimal wurde sie aufgerufen und merkte es erst, als es im Raum totenstill geworden war und alle sie ansahen. Sie kannte die Antwort nicht. Wie auch? Sie wusste nicht einmal, wie die Frage gelautet hatte.
In der Pause packte sie ihre Sachen und verließ die Schule. Sie würde noch mehr Stoff nachholen müssen, aber bis zum Ende zu bleiben brachte sie heute auch nicht weiter.
Vor dem Schulhaus, einem alten fünfstöckigen Backsteinbau, dessen Fassade mit ockergelber Farbe übermalt worden war, blieb sie stehen. Sie lehnte sich an eine Mauer aus grobem Stein und dachte daran, Rachel anzurufen. Es gab noch so viele Fragen, so vieles, was sie nicht verstand, und vieles, was sie einfach einmal aussprechen wollte. Jules kramte nach der Visitenkarte, die Rachel ihr gegeben hatte, als ihr bewusst wurde, dass es nicht Rachel war, mit der sie sprechen wollte, sondern Kyriel. Nicht dass sie Rachel nicht trauen würde, aber Rachel war wie sie – ein Mensch, dessen Vater zufällig ein Engel war. Kyriel jedoch war ein göttliches Wesen. Sein Wissen musste grenzenlos sein! Womöglich konnte er ihr sogar helfen, ihren Vater zu finden. Oder würde er ihn an die Gerichtsbarkeit verraten, damit er bestraft werden konnte?
Unschlüssig hängte sie sich ihr Messenger Bag über die Schulter und machte sich auf den Weg in Richtung Pike Street. Sie würde irgendwo einen Kaffee trinken und entscheiden, wie weit sie Kyriel mit einbeziehen konnte. Allerdings wurde sie schon jetzt das Gefühl nicht los, dass ihr gar keine andere Wahl blieb, als auf seine Hilfe zurückzugreifen. Wie sollte sie selbst Kontakt zum Himmel aufnehmen oder gar in irgendeiner Form dort oben Nachforschungen anstellen? Nach allem, was sie verstanden hatte, waren die Nephilim zwar nicht länger gefährdet, standen deshalb aber noch lange nicht auf der Liste der gern gesehenen
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