Seelenglanz
in den Briefkasten werfen.«
Ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, einem beinahe Fremden den Schlüssel für mein Apartment zu geben. Andererseits hatte ich Jules’ Wohnung gesehen – hier gab es nichts zu stehlen.
Während Jules die Sachen ihrer Mutter packte, saß ich mit Mrs MacNamara im Wohnzimmer. Jules hatte mich als einen Freund vorgestellt und ihr erklärt, dass sie für ein paar Tage fort sein würde. Trotz all ihrer Probleme war Mrs MacNamara eine nette Frau, die mich freundlich empfing. Wie schon bei meinem ersten Besuch nahm ich auch dieses Mal unter dem schalen Alkoholdunst, den sie verströmte, den Geruch des Todes wahr. Ihre Zeit lief ab, daran konnte selbst die beste Rehaklinik nichts mehr ändern. Die Frauhatte jetzt schon mehr Ähnlichkeit mit einem Gespenst als mit einem lebenden Menschen. Sie war bleich, die Haut so dünn, dass sie beinahe transparent wirkte, und ihre Gestalt so eingefallen und gebrechlich, dass ein Luftzug zu genügen schien, um sie ins Wanken zu bringen.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum ich nicht allein hierbleiben kann«, sagte Mrs MacNamara und klammerte sich dabei so fest an die Armlehne des Sessels, als hätte sie Mühe, sich aufrecht zu halten. »Sonst bin ich doch auch den ganzen Tag allein.«
Aber dann konnte Jules zumindest am Morgen nach dem Aufstehen, nachmittags nach ihrer Schicht und am Abend nach dem Rechten sehen.
»Es ist ja nur für ein paar Tage«, sagte ich. »Sie werden sehen, das ist wie Urlaub in einem All-inclusive-Hotel. Den ganzen Tag wird sich jemand um Sie kümmern und Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen.«
»Ich habe noch nie Urlaub gemacht.« Die Sehnsucht, die plötzlich in ihren Augen aufblitzte, war so groß, dass es mich nicht viel Mühe kosten würde, sie davon zu überzeugen, dass es ihr im Sanatorium gefallen würde. Dann jedoch schüttelte sie den Kopf. »Ich wüsste nicht, warum ich jetzt damit anfangen sollte.«
Womöglich würde ich doch ein bisschen mehr Mühe investieren müssen, aber wenn ich mit ihr fertig war, würde Jules beruhigt mit mir nach Florida fliegen. »Ich schlage vor, dass Sie sich die Anlage einfach einmal ansehen, und dann können Sie sich entscheiden, ob Sie bleiben oder doch lieber nach Hause zurückmöchten. Was halten Sie davon?«
Nachdem sie einen Moment über mein Angebot nachgedacht hatte, nickte sie. »Das klingt akzeptabel.« Sie musterte mich unverhohlen. »Sie sind wirklich ein gut aussehenderMann, Kyle. Und nett sind Sie auch noch. Wo haben Sie meine Julie kennengelernt?«
»Wir sind sozusagen Kollegen.«
Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, kam Jules ins Wohnzimmer. Wir waren bereit zum Aufbruch. Ich nahm die beiden Reisetaschen und ging vor, um ein Taxi zu rufen, während Jules ihrer Mutter die Treppen herunterhalf und den Wohnungsschlüssel bei den Nachbarn einwarf.
Als das Taxi kam, half ich Mrs MacNamara auf den Rücksitz und wartete, bis Jules neben ihr Platz genommen hatte, ehe ich mich vorne neben den Fahrer setzte.
Während der Fahrt vergaß Mrs MacNamara unsere Abmachung, sich das Sanatorium wenigstens einmal anzusehen. Stattdessen beklagte sie sich lautstark darüber, dass man sie aus dem Haus gezerrt und zu dieser Fahrt gezwungen hatte. Anfangs versuchte Jules noch, sie davon zu überzeugen, dass alles nur zu ihrem Besten sei, doch mit jedem weiteren Widerspruch ihrer Mutter wurde sie stiller, bis sie schließlich in bedrücktes Schweigen verfiel. Als sich unsere Blicke im Innenspiegel begegneten, stand ein deutliches »Ich hab’s dir ja gesagt« in ihren Augen geschrieben.
Das Hofferman Rehab Center lag am nördlichen Stadtrand mit Blick auf den Puget Sound. Selbst im Taxi glaubte ich das Rauschen des Meeres zu hören, auch wenn das durch die geschlossenen Fenster selbst für mich ziemlich schwierig war.
Wir fuhren unter einem großen Torbogen hindurch, hinter dem uns eine Tafel herzlich willkommen hieß, und folgten der Straße, vorbei an parkähnlichen Grünanlagen und verschiedenen Sportplätzen, die immer wieder von flachen Hallen unterbrochen wurden, hin zum Hauptgebäude.
Als das Taxi hielt, weigerte sich Mrs MacNamara auszusteigen. Ich zog die Einweisungspapiere aus meiner Tascheund hielt sie Jules hin, die neben der offenen Wagentür stand und mit unsäglicher Geduld auf ihre Mutter einredete. »Geh schon mal rein und melde sie an, ich rede mit ihr.«
»Glaubst du ernsthaft, dass du sie überzeugen kannst?«
»Vielleicht.« Ganz bestimmt!
Obwohl
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