Seelenglanz
sie skeptisch war, nahm sie die Papiere und ging hinein.
Der Taxifahrer, dem die Diskussionen während der Fahrt natürlich nicht entgangen waren, erkundigte sich, ob er das Gepäck wirklich ausladen solle. Ich nickte und wandte mich Jules’ Mom zu. »Kommen Sie Mrs MacNamara«, sagte ich und hielt ihr meine Hand entgegen. »Sie haben mir versprochen, es sich wenigstens anzusehen.«
Nach kurzem Zögern ließ sie sich von mir aus dem Wagen helfen. Sobald sie draußen war und die beiden Reisetaschen neben uns auf dem Boden standen, bezahlte ich den Fahrer.
»Was soll das?«, beklagte sie sich, als sich das gelbe Taxi immer weiter entfernte. »Rufen Sie ihn zurück! Ich will nicht hierbleiben!«
»Es ist doch nur für ein paar Tage, Karen. Darf ich Sie Karen nennen?« Sie nickte. »Sehen Sie, Jules hat in der letzten Zeit so hart gearbeitet, deshalb habe ich sie eingeladen, mit mir zu verreisen.«
»Ihr macht Urlaub?« Schlagartig entspannte sie sich. »Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Julie ist so ein gutes Mädchen. Aber sie nimmt das Leben zu ernst.« Mrs MacNamara griff nach meiner Hand. »Sorgen Sie dafür, dass sie ein paar schöne Tage hat, Kyle.« Sie zog ihre Hand rasch wieder zurück und schob sie in ihre Manteltasche, nur um gleich darauf einen Flachmann herauszuziehen. Ich begann zu begreifen, warum Jules sich solche Sorgen machte. Noch bevor sie die Flasche aufschrauben konnte, nahm ichsie ihr ab und warf das Ding in einen Mülleimer. Schlagartig war jede Freundlichkeit dahin. Es war, als stünde eine völlig andere Mrs MacNamara vor mir als die, mit der ich mich eben noch unterhalten hatte. Unter wüsten Flüchen wollte sie an mir vorbei, um den Flachmann zu retten, doch ich hielt sie fest.
»Sie können nicht über mich bestimmen!«, fuhr sie mich an.
Jules hatte recht. Ihre Mutter würde nicht freiwillig bleiben, auch wenn ich das gehofft hatte. Sie würde abhauen und sich irgendwo besaufen, womöglich bis sie tot umfiel. Schlimmer noch: Wenn Jules sie in ihrem jetzigen Zustand zu sehen bekam, würde sie sie nicht allein lassen. Sie würde nicht mit mir nach Florida gehen und deshalb ihr Leben und ihre Seele verlieren. Alles wegen einer alten Säuferin, die das Leben ihrer Tochter schon zur Genüge ruiniert hatte.
Mit einer Hand hielt ich Mrs MacNamara am Arm, während ich die andere Hand auf ihre Stirn legte. »Tut mir leid«, flüsterte ich. »Aber Sie lassen mir keine andere Wahl.« Langsam drang ich in ihren Geist ein. Stück für Stück arbeitete ich mich durch die Schichten ihres Verstandes und sah mit Schrecken, welche Zerstörung der Alkohol darin angerichtet hatte. Sie dachte an Jules und sie bereute, dass sie nicht stark genug gewesen war, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Karen MacNamara liebte ihre Tochter, so viel war sicher, doch sie war schwach. Der Alkohol und der Drang danach überlagerten jeden Gedanken und stellten ihn als unwichtig hintenan. Alles, was für sie zählte, waren der nächste Schluck und die darauf folgende Betäubung, die sie in einen Zustand versetzte, in dem sie nicht länger Zeugin ihres eigenen erbärmlichen Lebens sein musste.
Ich tastete nach dem Zentrum ihrer Empfindungen und beruhigte ihre aufgewühlten Gefühle. Langsam drang ich tiefer in ihren Verstand vor bis hin zu der Stelle, an der ich den stärksten Widerwillen spürte. Ich nahm ihn ihr und ersetzte ihn durch den Wunsch, hierzubleiben. Es wird Ihnen hier gefallen! Sie werden begeistert sein und wollen aus freien Stücken hierbleiben! Da ich wusste, dass all meine Mühe vergebens sein würde, sobald der Drang nach Alkohol erneut die Oberhand gewann, nahm ich ihr den Wunsch, weiter zu trinken, und ersetzte ihn durch eine große Lust auf Orangensaft.
Es würde ihr Leben nicht retten, jetzt mit dem Trinken aufzuhören, ihr Körper war bereits zu sehr geschädigt, aber es würde ihr zumindest ein paar letzte klare Wochen oder Monate verschaffen.
Als ich ihren Geist verließ und meine Hand zurückzog, lächelte sie mich an. Fast kam es mir so vor, als wüsste sie genau, was ich getan hatte – und als wäre sie mir dankbar dafür, dass ich in ihrem Geist herumgestochert und ihn manipuliert hatte.
Ich ließ ihren Arm los und hielt ihr stattdessen meinen hin, damit sie sich einhaken konnte. Auf dem Weg nach drinnen sammelte ich die beiden Taschen auf, dann führte ich Mrs MacNamara in die Empfangshalle.
Unmittelbar hinter der Tür blieb sie stehen und ließ ihren Blick über den
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