Seelengrab (German Edition)
dir, so einfach kommst du mir nicht davon. Ich habe dir noch nicht erlaubt, zu gehen. Mach die Augen auf!
So schnell stirbt kein Mensch. Aber du bewegst dich nicht mehr. Auch nicht, wenn ich dich anstoße. Dein Körper ist ganz verdreht. Das kann ja nicht gut gehen. Außerdem bist du kalt wie Eis. Und deine Haut ist wie aus Wachs.
Jetzt suche ich nach deinem Puls. Nichts. Ich schlage dir ins Gesicht. Doch du rührst dich immer noch nicht. Wenn ich deine Lider hebe, starren mich glasige Augen an. Wie konnte das passieren? Armes kleines Mädchen, armes kleines Mädchen. Was mach ich jetzt mit dir?
11
Greller Feuerschein erhellte den nachtschwarzen Himmel. Aufkommender Nordwind nährte die Flammen, die mehrere Meter hoch schlugen und ein Meer an Funken rheinaufwärts schickten. Die glühenden Punkte wirbelten im Luftstrom umher, um nach wenigen Augenblicken zu verglimmen. Der Bug eines schwach beleuchteten Lastkahns tauchte zwischen den Pfeilern der Friedrich-Ebert-Brücke auf und glitt mit leisem Motorengeräusch durch das dunkle Wasser. Etwa 30 Personen umringten den Scheiterhaufen und starrten mit glasigen Augen in das Zentrum des Feuers. Ihre Gesichter leuchteten rot-orange und glühten vor Hitze. Die Flammen leckten über die knorrigen Äste und ließen das Holz knacken. Hier und da hatte sich das Feuer bereits in eine schwelende Glut verwandelt, die nach neuer Nahrung verlangte.
Ein Mann löste sich aus der Gruppe und trat näher an den Scheiterhaufen. Er trug einen schwarzen Talar. Auf seinem Kopf saß eine übergroße Priestermütze, unter der eine wilde Lockenmähne hervorquoll. Das bleich geschminkte Gesicht wurde von einem Vollbart eingerahmt. Seine Augen waren mit schwarzem Kajal umrandet und blickten finster in die Runde. Sofort verstummte die Menge. Während er die Feuerstelle umkreiste, tauchte er eine Klobürste in einen Eimer Wasser und segnete die Umstehenden. Dabei murmelte er ein paar Gebetsformeln vor sich hin. Als er wieder am Ausgangspunkt angelangt war, steckte er die Bürste zurück in den Eimer und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich. Eine Hand griff danach und nahm die liturgischen Utensilien entgegen. Dann holte der Priester mit großer Geste eine rote Bibel unter seinem wehenden Talar hervor und erhob seine Stimme:
„Liebe Trauergemeinde, wie sagten schon die Alten? Nix is ömesöns. Kein Bier, kein Flöns. “
„Nix is ömesöns. Kein Bier, kein Flöns“, echote es mehrstimmig aus dem Kreis, in den jetzt Bewegung kam.
Die meisten Gemeindemitglieder hatten eine Fackel in der Hand und schüttelten diese, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
Der Priester hob beschwichtigend seine Linke und fuhr fort:
„Wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied von unserem Nubbel zu nehmen. Er wird büßen für seine Sünden.“
Damit reckte er die Bibel mahnend in die Höhe. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger der anderen Hand deutete er auf den leblosen Körper, der etwas abseits auf dem Kies lag. Er war auf eine Holzleiter gebettet und nur mit einer zerschlissenen Jeans und einem rot-schwarz karierten Holzfällerhemd bekleidet.
„Hört, was der Nubbel sich hat zu Schulden kommen lassen! Was hat der Nubbel verbrochen?“
„Un da singt der janze Knubbel: Dat wor der Nubbel!“ , meldete sich der Mann zu Wort, der gerade das Weihwassergefäß und das borstige Aspergill an sich genommen hatte, und blickte auffordernd umher.
„So ist es, mein Sohn.“
Gejohle erklang und wehte über den Rhein bis an das gegenüberliegende Ufer. Die Gemeinde war jetzt in der richtigen Stimmung, um mit der feierlichen Zeremonie zu beginnen.
„Wer hat Schuld, dass wir unser ganzes Geld versoffen haben?“, fragte der Pfarrer die Menge.
„Dat wor der Nubbel!“, kam es wie aus einem Mund zur Antwort.
„Wer hat Schuld, dass wir fremdgegangen sind?“, fragte der Geistliche weiter, mit jeder Silbe lauter.
„Dat wor der Nubbel!“
„Wer hat Schuld, dass die Session bald ein Ende hat?“
„Dat wor der Nubbel!“
„Nun gut, liebe Trauergemeinde“, gab der Geistliche zurück und machte eine bedeutungsvolle Pause. „Dann soll er brennen!“
„Ja, er soll brennen!“, schrie die Menge.
In diesem Moment ertönte aus der Ferne ein Schiffssignal und feuerte die Gemeinde zu noch lautstärkeren Rufen an.
Schließlich gab der Priester ein Zeichen und befahl:
„Bringt ihn zum Schafott!“
Trommelwirbel setzte ein. Zwei Messdiener eilten herbei und nahmen die Bahre hoch. Dabei rutschte
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