Seelengrab (German Edition)
sicher, dass das hier die richtige Stelle ist? Ist ja schon ein paar Jahre her, oder?“
„Haha, sehr witzig.“
Er zog sie an sich und küsste sie ein zweites Mal. Sie verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Po.
„Autsch!“
Als sie sich wieder aufrappelte, berührte ihre Hand etwas Weiches, das unter ihrem Gewicht nachgab.
„Warte mal.“
Sie löste sich von ihm.
„Da ist irgendetwas.“
„Wo?“
„Hier“, antwortete sie und tastete mit den Fingern den Boden ab.
„Du siehst ja schon Gespenster“, entgegnete er.
„Nein, ganz sicher nicht. Da! Hier liegt etwas!“
„Gut, wenn es dich beruhigt, sehe ich für dich nach.“
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog eine Taschenlampe hervor.
„Ich wusste gar nicht, dass du so gut ausgerüstet bist“, meinte sie, als er den Schalter betätigte.
„Ich habe viele Qualitäten, von denen du noch nichts weißt“, erwiderte er.
In diesem Moment begann der dünne Lichtstrahl zu flackern.
„Okay, ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil. Die Batterien sind alle.“
„Mist“, antwortete er und schüttelte die Taschenlampe. „Hier ist aber nichts. Lass uns lieber weiter nach dem Loch im Zaun suchen, bevor das Ding vollends seinen Geist aufgibt.“
Als der schwache Lichtkegel auf den Maschendraht traf, stockte ihnen plötzlich der Atem. Keine zwei Armlängen entfernt ragte ein bleicher Fuß aus dem Laub. Dann fing sie an zu schreien.
12
Hab keinen Mucks gemacht. Hab mich nicht bewegt. Sieh doch: Das Mehl auf dem Boden ist ganz weiß. Bin nicht hineingetreten. Aber meine Knie schlottern. Sind wie aus Gummi. Weiß nicht, wie lange ich noch so hier stehen kann. Es ist so kalt auf dem Flur. Will zurück ins Warme. Zurück zu den anderen. Werde bestimmt keine Äpfel mehr aus dem Garten stehlen. Hatte doch nur Hunger. Wie jetzt. Nichts mehr gegessen seit Stunden. Mein Magen fühlt sich an wie ein Stein. Ganz hart. Und leer. Bin dazu noch müde. So müde. Wenn sie mich nicht zurückholen, schlaf ich noch im Stehen ein. Dann fall ich einfach um und das Mehl fliegt in alle Richtungen. Verteilt sich auf den Dielen und fällt in jede Ritze. Oder ich lauf einfach weg. Aber sie würden mich finden. Meine Fußabdrücke würden mich verraten. Wie jedes Mal. Kann nirgendwohin. Wenn ich die Augen zumache, verschwinde ich vielleicht.
13
Lutz Hirschfeld schlug die Augen auf. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Er drehte sich zur Seite und nahm verschwommen die grünen Leuchtziffern seines Reiseweckers wahr. Es war bereits weit nach Mitternacht.
„Ja?“, meldete sich Hirschfeld matt nach dem letzten Telefonklingeln.
Es war Mittwoch. Sein zweiter Arbeitstag in Bonn war ruhig verlaufen. Am Morgen hatte Hirschfeld seine mit einer Registriernummer versehene Kriminalmarke und seinen Dienstausweis entgegengenommen. Die PolizeiCard mit dem Wappen von Nordrhein-Westfalen und dem Polizeistern war scheckkartengroß. Beamte in Zivil mussten die Karte mit sich führen, um sich zusätzlich ausweisen zu können. Tagsüber hatte das KK 11 nur zwei Leichensachen reinbekommen: den Suizid eines alleinstehenden 67-Jährigen, der sich in seinem Schlafzimmer erhängt hatte und von einer Nachbarin, die sich Sorgen gemacht und nach dem Rechten gesehen hatte, gefunden worden war, und den Tod einer 84-jährigen Bewohnerin eines Altenheims. Die Angehörigen hatten Zweifel geäußert, ob die Frau tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben war. Hirschfeld hatte die Beschlagnahmung des Leichnams vom Kommissariat aus veranlasst. Im Gegensatz zu dieser Büroleiche, wie solche Fälle im KK 11 gerne genannt wurden, schien die Sachlage jetzt eine andere zu sein.
„Peter Kirchhoff am Apparat. Wir haben eine Leiche am Rheinufer. Ich hole dich in einer Viertelstunde ab.“
Dann klickte es in der Leitung, das Gespräch war beendet.
Hirschfeld quälte sich aus dem warmen Bett. Während er sich anzog, suchte er nach seinen Zigaretten. Kurz darauf verließ er sein Zimmer. Auf dem Weg nach unten schob er sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er die Doppeltür des Hotels öffnete, schlug ihm ein schneidender Wind entgegen. Kaum hatte er sich die Zigarette angezündet, hielt ein schwarzer Audi A4 Quattro auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Seitenfenster glitt hinunter und ein breites, kantiges Gesicht, dem die Müdigkeit anzusehen war, erschien in der Öffnung.
„Lutz Hirschfeld?“
„Yepp.“
„Steig ein, wir sind spät dran“, meinte
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