Seelengrab (German Edition)
Kirchhoff zur Begrüßung.
Hirschfeld nahm einen letzten Zug, überquerte die Straße und schnippte die glühende Zigarette gegen den Bordstein. Dann umrundete er den Wagen, öffnete die Tür und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
„Netter Dienstwagen“, meinte er und schnallte sich an.
„Der letzte Neuzugang in unserem Fahrzeugpool“, entgegnete Kirchhoff, ließ den Audi auf die Straße rollen und trat aufs Gaspedal.
„Was haben wir bisher?“, wollte Hirschfeld wissen.
Später würden sich noch genügend Gelegenheiten bieten, ein paar persönliche Worte zu wechseln. Kirchhoff machte allerdings nicht den Eindruck, als läge ihm viel an einer Unterhaltung dieser Natur.
„Weiblich, weiß, zwischen 20 und 30 Jahren“, fasste Kirchhoff knapp zusammen.
„Todesursache?“
„Bisher nicht bekannt. Die Leiche ist noch nicht geborgen. Dennoch können wir von einem Tötungsdelikt ausgehen: Die Frau ist – nach dem jetzigen Stand der Dinge – unbekleidet.“
„Verstehe“, entgegnete Hirschfeld und warf einen Seitenblick zu Kirchhoff, der starr geradeaus auf die Fahrbahn sah.
Im Profil stachen seine längliche Nase und die schmalen Lippen hervor. Außerdem begannen seine Schläfen deutlich zu ergrauen. Irgendetwas irritierte Hirschfeld an Kirchhoff, er konnte diesen Eindruck jedoch nicht in Worte fassen.
„Wer hat die Tote gefunden?“, erkundigte er sich.
„Ein Pärchen.“
„Was hatten die beiden um diese Uhrzeit dort verloren?“, hakte Hirschfeld sofort nach.
„Soweit ich es richtig verstanden habe, haben die zwei an einer Nubbelverbrennung teilgenommen und sich anschließend von der Gruppe entfernt. Dabei sind sie dann im wahrsten Sinne des Wortes über die Leiche gestolpert.“
„Nubbelverbrennung? Was habe ich mir darunter vorzustellen?“
„Ein alter Karnevalsbrauch“, antwortete Kirchhoff, setzte den Blinker und bog in die Wilhelmstraße ein.
„Ist mir nicht geläufig.“
„Richtig, du stammst ja nicht von hier. Der Nubbel ist eine Strohpuppe, …“
„Alles andere hätte mich auch gewundert“, warf Lutz Hirschfeld ein.
„… die in der Nacht von Karnevalsdienstag auf Aschermittwoch verbrannt wird“, fuhr Kirchhoff unbeirrt fort. „Der Nubbel steht für die Verfehlungen, die im Karneval begangen worden sind. Wenn man so will, ist er eine Art Sündenbock. Zu Beginn der Session wird der Nubbel über die Tür einer Kneipe gehängt. Am Veilchendienstag wird er schließlich mit einer feierlichen Prozession zum Scheiterhaufen geleitet und den Flammen übergeben.“
„Interessante Freizeitbeschäftigung“, gähnte Hirschfeld und fuhr sich mit der Hand über seine Bartstoppeln.
Peter Kirchhoff verzog keine Miene. Hirschfeld war nicht sicher, ob er seinen Kollegen gerade gekränkt oder ob dieser einfach keinen Sinn für ironische Untertöne hatte.
„Gibt es bereits irgendwelche Anhaltspunkte?“, wechselte Hirschfeld deshalb das Thema.
„Nein. Das Gelände ist unübersichtlich und schwer zugänglich. Wir haben bereits die Feuerwehr zur Unterstützung angefordert, um uns einen besseren Überblick zu verschaffen. Wir können nur hoffen, dass es diese Nacht nicht wieder anfängt zu regnen.“
Hirschfeld nickte und blickte aus dem Fenster. Die Lichter der Stadt zogen an ihm vorbei. Die Straßen waren fast menschenleer. Die meisten Jecken mussten entweder irgendwo versackt sein oder bereits den Heimweg angetreten haben.
Zehn Minuten später lenkte Peter Kirchhoff den Wagen von der Römerstraße auf einen großflächigen Parkplatz unter der Nordbrücke. Er stellte das Fahrzeug ab und meinte:
„Den Rest gehen wir zu Fuß. Ist nicht weit.“
Sie stiegen aus. Kirchhoff reichte Hirschfeld eine Taschenlampe und deutete auf einen Fahrradweg.
„Da entlang.“
Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten über den asphaltierten Weg. Nach knapp 200 Metern traf der Weg auf die Rheinpromenade. Sie wandten sich nach rechts und entdeckten sofort ein Feuerwehrfahrzeug, einen weißen Kastenwagen der KTU und zwei Polizeistreifen mit eingeschalteten Scheinwerfern. Eine Lichtgiraffe, eine große Flutlichtanlage der Feuerwehr mit einem ausfahrbaren Mast mit neun 1.500-Watt-Strahlern, leuchtete den Fundort aus, der weiträumig abgesperrt war, und tauchte die Szenerie in gleißende Helligkeit. Mehrere Personen standen in Gruppen um die Fahrzeuge herum und unterhielten sich gedämpft. Bei jedem Atemzug bildeten sich kleine Kondenswolken vor ihren Gesichtern. Eine Gestalt löste sich aus
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