Seelengrab (German Edition)
Kellnerin die Getränke. Als sie sich wieder vom Tisch entfernt hatte, wechselte sein Vater abrupt das Thema:
„Deine Schwester hat mich gestern besucht.“
Er stürzte das Wasser hinunter, als wäre er ein Verdurstender in der Wüste.
„Jo war hier? Sie ist doch noch in den Staaten.“
Gerade hatte Hirschfeld noch den Eindruck, sein Vater habe einen klaren Moment. Wenn dem so gewesen war, war dieser nun vorbei.
„Nein, wenn ich es dir doch sage“, gab Heinrich Hirschfeld zurück und drehte das leere Glas Wasser zwischen seinen Händen. „Du kennst sie doch. Sie ist ganz anders als du. Heute hier, morgen dort. Bei ihr weiß man nie, was sie als Nächstes vorhat.“
Damit hatte sein Vater allerdings Recht. Vielleicht entsprang der Besuch seiner Schwester tatsächlich nicht der Fantasie seines alten Herrn. Hirschfeld erinnerte sich plötzlich daran, dass Jo versucht hatte, ihn nach der Pressekonferenz vor ein paar Tagen auf dem Handy zu erreichen. Vielleicht hatte sie vorgehabt, ihm ihre frühzeitige Rückkehr mitzuteilen. Hirschfeld beschloss, seine Schwester später zurückzurufen. Er sah auf die Uhr. Sie hatten noch eine halbe Stunde, bevor er seinen Vater wieder in der Klinik abliefern musste.
„So“, kam die Kellnerin zurück und stellte das Essen auf den Tisch. „Ich bringe Ihnen noch das Besteck.“
Heinrich Hirschfeld drehte den Teller, sodass der Knochen, der aus der Schweinshaxe ragte, auf ihn zeigte. Der Sud des Sauerkrauts, auf dem das Fleisch gebettet war, schwappte dabei über den Rand und sog sich in die Tischdecke. Das Mark hatte sich durch das Kochen rostbraun verfärbt. In der Schwarte, die sich am Rand zusammengezogen hatte, steckten noch ein paar Borsten. Das rosa-graue Muskelfleisch war von blauen Fasern durchzogen. Heinrich Hirschfeld nahm das Eisbein in beide Hände und biss in das Fleisch. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten. Hirschfeld verzog das Gesicht, zwang sich jedoch, seine Suppe zu probieren. Sie war heiß, aber wässrig.
„Was denn? Schämst du dich etwa für mich?“, fragte sein Vater kauend und schlang den Bissen hinunter. Fett triefte ihm aus den Mundwinkeln und rann über sein Kinn.
„Hmm“, murmelte Hirschfeld.
Er legte den Löffel zur Seite und beschloss, sich bis auf Weiteres von Fleisch fernzuhalten. Eine längst überfällige Entscheidung.
Anderthalb Stunden später stieg Hirschfeld aus dem Taxi. Auf der Fahrt nach Lengsdorf hatte er Jos Handynummer gewählt, jedoch nur die Mailbox seiner Schwester erreicht. Jetzt stand er vor dem Haus seiner Eltern. Die Fenster des Bungalows lagen im Dunkeln. Als er sich der Eingangstür näherte, flammte das Licht der Außenbeleuchtung auf. Hirschfeld blieb neben der Tür stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Er fühlte sich erschöpft. Er winkelte das rechte Bein an, griff in die Manteltasche und klopfte eine Zigarette aus der Schachtel. Das Licht über ihm erlosch. Wenig später glühte ein Punkt in der Dunkelheit auf und tauchte sein Gesicht in ein rotes Oval. Während Hirschfeld ein paar Züge nahm, ließ er den Nachmittag mit seinem Vater Revue passieren. Der kurze Spaziergang zur Gaststätte und die üppige Mahlzeit hatten seinen alten Herrn kurzzeitig auf andere Gedanken gebracht. Als Hirschfeld ihn wieder auf sein Zimmer begleitet hatte, war sein Vater wenig später in unwilliges Schweigen verfallen. Diesen Zustand schrieb Hirschfeld nicht allein der Schweinshaxe zu, die seinem Vater schwer im Magen liegen musste. Nach einer weiteren halben Stunde, die Hirschfeld aus Höflichkeit geblieben war, hatte er sich von ihm verabschiedet. Bevor Hirschfeld die Rheinische Landesklinik verlassen hatte, hatte er noch einmal den blassen Pfleger aufgesucht. Der junge Mann hatte lächelnd bestätigt, dass Johanna tatsächlich am Vortag in der Klinik gewesen war. Der Besuch seiner Tochter entsprang also nicht der Fantasie seines Vaters. Immerhin ein Fortschritt.
Hirschfeld zog noch einmal an der Zigarette und schnippte sie dann mit dem Zeigefinger weg. Die Kippe flog in hohem Boden durch die Dämmerung. Ehe sie auf dem Steinweg landete, reagierte der Bewegungsmelder erneut. Hirschfeld sah zu, dass er ins Haus kam. Noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wusste er, dass Jo nicht hier war. Er schaltete das Licht im Flur an und sah sich im Haus um, wobei er einen Blick in jeden Raum warf. In der zweiten Etage entdeckte er schließlich zwei große Koffer. Daneben lag eine
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