Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
zum ersten Mal und strich sanft mit den Fingern darüber. Natürlich zeigte es ihn zusammen mit Saskia. Sie strahlten beide in die Kamera, hinter sich die untergehende Sonne am Ostseestrand.
Ein Bild aus glücklichen Zeiten, dachte er mit einem traurigen Lächeln. Obwohl, inzwischen war er sich selbst da nicht mehr so sicher. Waren sie wirklich glücklich gewesen? Selbst an diesen an sich unbeschwerten Tagen an der Ostsee hatte ein Schatten auf ihrer Beziehung gelegen. Ein Schatten, der sich nie so ganz hatte vertreiben lassen.
Eigentlich hatte Jörn seiner frisch angetrauten Frau eine tolle Hochzeitsreise schenken wollen. Sie war in ihrem bisherigen Leben noch nie im Ausland gewesen, und er wollte ihr die ganze Welt zeigen. Es gab so viel, das sie gemeinsam entdecken konnten.
Australien hätte ihn gereizt, oder vielleicht Südafrika. Doch zur Zeit ihrer Hochzeit hatte seine Firma in wichtigen Verhandlungen gesteckt, und er als Geschäftsführer musste natürlich dabei sein. Also hatte es statt bombastischer Flitterwochen nur ein verlängertes Wochenende an der Ostsee gegeben. Natürlich hatte er ihr damals versprochen, dass sie die Hochzeitsreise bald nachholen würden, aber immer wieder war etwas dazwischen gekommen.
Und jetzt war es zu spät. Es würde niemals eine Hochzeitsreise für sie geben.
Er dachte daran, wie er Saskia kennengelernt hatte. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, vielleicht hatte es sogar schon an Besessenheit gegrenzt. Er wäre bereit gewesen, alles für sie aufzugeben, und in gewisser Weise hatte er das auch getan.
Zu seinen Freunden, die gegen seine Beziehung gewesen waren, hatte er den Kontakt vollständig abgebrochen. Schon die Hochzeit hatten sie fast allein gefeiert, und kein Einziger von ihnen war auf ihrer Beerdigung erschienen. Aber das fand er nicht weiter tragisch. Damit hatte er gerechnet. Dass jedoch auch seine Familie ihn komplett im Stich gelassen hatte, seitdem er mit Saskia verheiratet war, schmerzte ihn schon. Sie hatten damals ebenfalls schon ihre Hochzeit ignoriert, doch dass sie ihn allein am Grab seiner Frau hatten stehen lassen, war weitaus schlimmer gewesen.
Nur Linda war natürlich da gewesen. Bei der Hochzeit genauso wie bei Saskias Bestattung. Er lächelte leicht. Auf seine kleine Schwägerin war immer Verlass. Sie hatte ihre Schwester regelrecht vergöttert, und sie hatte auch allen Grund dazu gehabt. Saskia hatte sich mehr um Linda gekümmert, als eine Mutter das hätte tun können.
Er überlegte kurz, ob er noch auf einen Überraschungsbesuch runter in Lindas Wohnung gehen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Dafür war es schon viel zu spät.
Seitdem er allein war, versuchte er sich mit Arbeit ablenken. Er war grundsätzlich der Letzte, der abends die Firma verließ. Auch jetzt war es fast schon wieder Mitternacht. Wenn er um diese Zeit zu Linda runterging, würde er sie nur unnötig aufschrecken. Es war schon schlimm genug gewesen, dass er ihr die Nachricht vom Tod ihrer Schwester hatte überbringen müssen. Nur zu gut erinnerte er sich noch an ihr blasses Gesicht, das Zittern ihrer Hände, den fassungslosen Blick.
Er ging in die Küche, holte sich eine Gabel aus der Schublade und setzte sich dann an den Wohnzimmertisch. Er schaufelte die gebratenen Nudeln in sich hinein. Dass sie bereits kalt waren, störte ihn nicht. Er schmeckte sowieso nichts, seine Gedanken waren ganz woanders.
Wie jeden Abend trat er ans Bücherregal und zog eine Ausgabe von Lessings Nathan der Weise vom obersten Bord. Doch nicht der Klassiker interessierte ihn, sondern der Brief, der zwischen den Seiten steckte.
Obwohl er den Text schon auswendig kannte, las er ihn wieder und wieder Wort für Wort durch. Dabei verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, und er presste die Lippen fest aufeinander.
Nachdem er den Brief wieder im Buch verstaut und dieses zurück ins Regal geschoben hatte, machte er sich für die Nacht fertig. Er würde gut schlafen, dachte er, während er sich die Zähne putzte und unverwandt sein Spiegelbild anstarrte. Denn er wusste, dass er das Richtige getan hatte.
Dienstag, 19. März
Das Architekturbüro Tenstaage&Sheridan logierte in einem imposanten roten Backsteinbau mit direktem Blick auf die Trave. Ein graviertes Glasschild zeigte an, dass die Firma die oberen beiden Stockwerke des Gebäudes belegte.
Suna betrat das Büro und sah sich neugierig um. Alles wirkte edel, teuer und darauf ausgerichtet, Eindruck auf
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