Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
unbedingt sexuelle Gewalt, um eine Kinderseele zu zerstören. Körperliche oder selbst nur psychische Gewalt können große Schäden anrichten. Wobei ich das nur ausdrücklich in Anführungszeichen setzen möchte, denn psychische Gewalt kann extrem zerstörend wirken. Wenn eine entsprechende Veranlagung besteht, können sich tatsächlich Auswirkungen ergeben, wie Sie sie bei Ihrer Hauptfigur geschildert haben. Vor allem, wenn das Kind auch später wenig Liebe und Geborgenheit erfährt.«
Suna nickte. Bisher entsprach alles, das die Psychologin gesagt hatte, ziemlich genau ihren Erwartungen.
»Also weiter. Als das Mädchen erwachsen ist, gerät es an den besagten Freund, der es ausnutzt und für ihn anschaffen lässt. Ob sie ihn wirklich liebt, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist es eine reine Zweckbeziehung. Sie bringt ihm Geld ein, er lässt sie bei sich wohnen. Dann aber verliebt sich plötzlich einer ihrer Kunden in sie. Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Sie steigt aus dem Gewerbe aus, verlässt ihren Freund und heiratet den ehemaligen Freier.« Sie blickte Dr. Zeisig an. »Richtig soweit?«
Die Psychologin nickte. »Keine Einwände.«
»Und da kommt der Punkt, wo ich doch etwas unsicher werde. Alles könnte wunderbar sein, die beiden lieben sich, die Welt ist plötzlich rosarot.«
»Sind Sie sicher, dass sie sich wirklich lieben?«, unterbrach sie Dr. Zeisig.
Suna stutzte. Sie zögerte einen Augenblick. »Ich denke schon«, sagte sie dann. Auf das zustimmende Nicken der Psychologin fuhr sie fort: »Aber plötzlich bekommt die heile Welt Risse. Die Frau bekommt Angst, versucht auszubrechen. Sie beginnt eine Affäre mit einem anderen Mann.«
Wieder wurde Suna von Dr. Zeisig unterbrochen. »Würde sie das wirklich?«, fragte sie. »Sie haben gesagt, dass ihr Mann und sie sich wirklich lieben. Würde sie aus Angst vor einer gemeinsamen Zukunft fremdgehen? Noch dazu nach der Hochzeit, wenn es eigentlich schon zu spät ist?«
Plötzlich stand die Psychologin auf. »Es tut mir leid«, meinte sie in entschuldigendem Ton. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist. Ich habe leider noch einen dringenden Termin.«
Suna erhob sich ebenfalls und hielt ihr die Hand hin. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Keine Ursache.« Dr. Zeisig verzog ihr Gesicht zu einem süffisanten Lächeln. »Und lassen Sie mir eine Ausgabe Ihres Buches zukommen, wenn es fertig ist.«
*
Nachdem Suna die Praxis von Dr. Zeisig verlassen hatte, machte sie sich sofort auf den Weg zu ihrer Auftraggeberin. Sie wollte auf jeden Fall zuerst mit ihr die neuesten Erkenntnisse besprechen, bevor sie zur Polizei ging.
Unterwegs dachte sie noch einmal über die Theorie nach, die sie entwickelt hatte, als sie die Unterlagen von Irene Vossen genauer durchgesehen hatte. Sie hatte falsch gelegen, da war sie sich inzwischen sicher, aber nur in kleinen Teilen. Das meiste konnte durchaus so passiert sein, wie sie es sich zusammengereimt hatte. Es gab allerdings noch eine Kleinigkeit, die sie bestätigt haben wollte.
Sie fuhr an den Straßenrand, hielt an und wählte die Handynummer von Paul Sheridan.
»Hallo Herr Sheridan, hier ist Suna Lürssen«, meldete sie sich, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.
»Frau Lürssen, welche Überraschung.« Seine Stimme klang wenig begeistert. »Was gibt es denn?«
Suna bemühte sich um einen besonders freundlichen Ton, als sie sagte: »Es tut mir leid, dass ich Sie noch einmal stören muss, ich habe nur noch eine einzige Frage. Können Sie mir sagen, wie Sie Saskia damals kennengelernt haben?«
»Hat sie Ihnen das nicht erzählt? Sie hat auf dem Parkplatz des Supermarkts mein Auto mit ihrem Einkaufswagen gerammt.« Er lachte kurz auf. »Das Ganze war ihr unglaublich peinlich. Sie hat natürlich sofort angeboten, den Schaden zu bezahlen. Und als kleine Wiedergutmachung hat sie mich dann zum Essen eingeladen. Den Rest können Sie sich ja denken.«
»Allerdings. Nur noch eins: Welcher Supermarkt war das? Der im Hochschulviertel?«
»Nein, der in Bad Oldesloe, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Dort gehe ich immer einkaufen.« Sheridan klang erstaunt. »Warum?«
»Ach, das wollte ich nur wissen«, gab Suna lapidar zurück. »Vielen Dank.«
Sie legte auf, bevor Sheridan weiter nachfragen konnte. Die Antwort bestätigte ihre Theorie. Saskia ging bestimmt nicht ohne Grund in Bad Oldesloe einkaufen, so weit von ihrer Wohnung
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