Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
waren gerötet. Voller Angst starrte sie zu ihrem Schwager hinauf, der unruhig im Raum auf und ab ging. Seine Bewegungen wirkten ungelenk und fahrig. Nervös zupfte er an seiner Unterlippe herum.
Suna zweifelte nicht daran, dass Jörn ihrer Klientin die gleiche Behandlung verpasst hatte wie ihr selbst. An ihrem Hals, kurz oberhalb des Ausschnitts, meinte sie eine der typischen Verbrennungen zu erkennen, die eine solche Elektroschockpistole verursachte. Nur musste es Linda noch mehr schockiert haben, da sie sicherlich nichts von dem dunklen Geheimnis ihres Schwagers geahnt hatte.
»Was soll das, Jörn?«, fragte Linda mit brüchiger, leiser Stimme. »Warum machst du so etwas? Ich verstehe das nicht.«
Christensen antwortete nicht. Stattdessen meldete sich Suna zu Wort.
»Ihr Schwager will alle für den Tod seiner Frau bestrafen, richtig?«, sagte sie so laut sie konnte in Jörns Richtung. Dann wandte sie sich an Linda. »Saskia wurde nicht umgebracht. Sie ist freiwillig von der Brücke gesprungen.«
»Das stimmt nicht«, brüllte Christensen plötzlich. Er blieb abrupt stehen und starrte Suna feindselig an. »Sie wurde ermordet«, zischte er, »aber nicht an diesem Abend, sondern schon früher, viel früher.«
»Von Rüdiger Tenstaage, meinen Sie?«, fragte Suna. Sie hatte Mühe, trotz ihrer Kopfschmerzen einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte aber, sich auf das zu konzentrieren, was sie herausgefunden hatte.
Linda schien ähnlich langsam im Denken zu sein wie die Privatdetektivin. Angestrengt runzelte sie die Stirn. »Ist das nicht der Mann, den sie tot in der Konservenfabrik gefunden haben?«, fragte sie schließlich.
»Genau der«, bestätigte Suna. »Sie können sich nicht mehr daran erinnern, weil Sie damals noch zu klein waren und der Name später wohl nicht mehr erwähnt wurde, aber Rüdiger Tenstaage war Ihr Pflegevater. Er und seine Frau haben Sie und Ihre Schwester für einige Monate aufgenommen, als Ihre Eltern sich getrennt haben.«
Christensen lachte höhnisch auf. »Sie meinen wohl, er hat sie für einige Monate gequält. Saskia hat mir erzählt, war er mit ihr gemacht hat.« Er starrte aus dem Fenster. In seinem Blick lag reiner, unverfälschter Hass. »Dass er sie stundenlang in einer dunklen Kiste eingesperrt hat und sie nicht wusste, ob sie jemals lebend wieder rauskommt, war noch eines der milderen Übel. Mitten in der Nacht hat er plötzlich an ihrem Bett gestanden, ihr ins Ohr geflüstert, dass er sie jetzt umbringt, ihr die Kehle aufschlitzt oder ihr ein Messer in den Rücken sticht, wenn sie wieder einschläft. Oder er hat gedroht, dass er ihre kleine Schwester mitnimmt und allein im Wald aussetzt, wo die wilden Tiere sie in Stücke reißen und anschließend auffressen würden. Und dann hat er sich an ihrer Angst geweidet. Er war ein mieser, armseliger Sadist.«
»Also haben Sie ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt und ihm ebenfalls gezeigt, was es bedeutet, Todesangst zu haben«, vermutete Suna. Sie bemühte sich, möglichst deutlich zu sprechen, konnte ein leichtes Lallen in ihrer Stimme aber nicht unterdrücken. Der Schlag, den sie beim Sturz auf den Kopf bekommen hatte, musste ziemlich heftig gewesen sein. »Saskia hatte durch Sheridan von Tenstaages Termin in Hamburg erfahren. Also haben Sie beide ihm dort aufgelauert und ihn entführt«, mutmaßte sie.
Christensen schnaubte verächtlich. »Saskia brauchte sich nur einen kurzen Rock anzuziehen und eine lange blonde Perücke aufzusetzen, und schon ist er geifernd hinter ihr hergerannt.«
»Haben Sie von Anfang an geplant, ihn umzubringen?«, wollte Suna wissen.
Christensen starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. Er ließ sich in den zweiten Sessel sinken. Als er weitersprach, wirkte er wie weggetreten, fast, als hätte er Drogen genommen. »Wir wollten nur, dass er am eigenen Leib spürt, wie es sich anfühlt, jemandem völlig ausgeliefert zu sein. Eigentlich sollte er nur zwei oder drei Tage in der Kammer verbringen. Wir wollten, dass er um sein Leben bettelt, dass er endlich mal einsieht, was er Saskia angetan hat. Und vielleicht auch noch anderen Kindern. Aber der Scheißkerl war stärker, als wir gedacht haben. Er hat rumgebrüllt und geflucht, anstatt wirklich zu leiden. Also musste er ein bisschen länger drinbleiben als geplant. Bloß musste ich dann zu dem Kongress und Saskia musste sich allein um ihn kümmern.«
»Und das hat sie nicht ausgehalten«, sagte Suna leise.
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