Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
sich in ihren Wohnungen. Der Tag ist die Zeit für Menschen, die Nacht die Zeit der Mumien.
Zuerst gab es nur ein paar wenige, aber mit der Zeit wurden es immer mehr und mehr. Sie brauchten Orte, wo sie
sich mit Ihresgleichen treffen konnten, um Menschen in ihren Kreis zu locken und ihre Armeen zu vergrößern. Eines schönen Tages – denken Sie an meine Worte! – wird die Stadt voll von ihnen sein. Wann immer die Mumienkonzentration pro Quadratmeter Nutzfläche in den vorhandenen Restaurants und Clubs ein bestimmtes kritisches Maß überschreitet, schießen überall in der Stadt neue Boutiquen, Schönheitssalons, Clubs, Restaurants und Bars wie Pilze nach einem sauren Regen aus dem Boden.
Solange es immer noch Menschen gibt unter den Besuchern dieser Lokalitäten, benutzen die Mumien ein spezielles Navigationssystem, um ihre Artgenossen zu identifizieren, vergleichbar der Freund-Feind-Erkennung in Kampfflugzeugen. Zu diesem Zweck bedienen sich die Mumien des Mediums der Produktlabel. So müssen sie einen Gesprächspartner nicht mehr, wie das früher üblich war, stundenlang beschnuppern und sich in endlose Dialoge über Kleidung, Autos, Reiseziele und dergleichen verwickeln lassen, um herauszufinden, in welche Welt ihr neuer Bekannter gehört. Nein, heute genügt es, in Sekundenschnelle den Dresscode einer Person zu scannen, um zu wissen, ob er einer von ihnen ist.
Sie dachten immer, die verlockenden Slogans der Modebranche, die Sie jede Saison in den Schaufenstern und den Magazinen vorgesetzt bekommen, spiegeln tatsächlich nur den rasanten Wechsel der Moden wider? Von wegen! Der Dresscode wird in jeder Saison verändert, damit sich keine Fremden in die Welt der Mumien einschleichen können.
Das Kommunikationssystem der Mumien ist aufs Äußerste vereinfacht, damit ihre Gehirnwindungen nicht durch Überlastung beschädigt werden. Deshalb gibt es eine sehr begrenzte
Anzahl von Schlüsselsätzen, deren Verwendung jeder Mumie den Sinn eines Gespräches sofort klarmacht.
Treffen sich zum Beispiel zwei Mumien-Mädchen in einem Café. Sagt die eine zur anderen, während sie sich an den Tisch setzt und sie auf die Wange küsst: »Entschuldige, ich hab mich verspätet.« Sie stellt eine Handtasche auf den Tisch. »Hier, aus der Tretjakow!«
Ihre Freundin versteht exakt Folgendes: Ich war in der Boutique Mercury in der Tretjakow-Passage, habe mir dort ein paar hübsche Handtaschen angeschaut, bin dann auf einen Kaffee in die T.R.E.T.Y.A.K.O.V Lounge, habe anschließend bei Gucci Schuhe anprobiert und musste deshalb natürlich zu spät kommen.
Nehmen wir als Gegenprobe einmal an, eine der beiden Mumien-Mädchen begegnet einem gewöhnlichen Menschen. Dieser äußert vielleicht den Satz: »Ich will gerade in die Tretjakow, Bilder ansehen.« Da kommt die Mumie natürlich schwer ins Grübeln. Sie zermartert sich ihr armes Hirnchen und wird endlich präzisierende Fragen stellen, zum Beispiel:
»Was für Bilder? Gibt es dort Bilder?«
»Oh ja, ein paar neue Italiener.«
»Was denn, ist der neue Katalog von Prada schon da?« Dass es eine Tretjakow-Galerie gibt, ist der Mumie natürlich niemals zu Ohren gekommen. Das Wort »Tretjakow« bedeutet für sie »Tretjakow-Boutique-Arkaden« und nichts anderes. Man kann davon ausgehen, dass die Mumien so im Laufe der Jahre ihre Sprachfähigkeit vollständig verlieren und einander nur noch ihre aktuellen Modeartikel oder ihre neuen Liebhaber vorzeigen. Das Lesen haben sie im Übrigen schon lange vorher verlernt. Wie erklären Sie sonst die
Tatsache, dass so viele Hochglanzmagazine fast durchgehend aus Fotos bestehen? Seite für Seite Modeschauen, Sommerveranden und sonstige Herzensangelegenheiten. Manche von ihnen bieten praktisch nichts anderes als durchgehende Fotosessions einer endlosen Party. Die Mumien sitzen da und betrachten die Bilder. Erkennt eine von ihnen sich selbst oder einen ihrer Bekannten auf den Fotos, gibt es eine Riesenaufregung, sie kreischen und quietschen Erkennungssignale wie »Wow! Super! Cool!«. Indem die Mumien in ihren kostspieligen Leichentüchern durch ihre Grüfte ziehen und mit ihren Artgenossen in den immer gleichen Magazinen die immer gleichen Fotonekrologe betrachten, identifizieren sie sich selbst: »Ich bin genau so wie ihr. Wir verstehen, wo wir uns befinden. Das alles wurde nur für uns geschrieben, fotografiert und gebaut. Eine andere Welt existiert nicht.« Auf diese Art und Weise schließt sich der Raum, in dem die Mumien leben. Das
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