Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Existenz. Aber die Depression ist hier allgegenwärtig. In der Tasse Kaffee, auf dem Teller mit dem Carpaccio, in dem Mädchen mit dem grauen Gesicht, in der Neonschrift über der Bar, in dem Kellner, der wie geölt durch den Saal flitzt, in dem Mann, der aus der Toilette kommt und sich die Nase reibt. Sie liegt nicht einfach in der Luft, nein – die Luft selbst setzt sich daraus zusammen. Die Depression ist die Basis des Systems.
Die Mumien versuchen, sie zu vertreiben, mit Feten, Kleidung, Sex und Geld. Und dabei gehen sich alle dermaßen auf den Senkel, dass jeder lieber heute als morgen von hier abhauen würde. Aber man kann ja nirgendwohin. Es ist tatsächlich eine Zone, ein Straflager, ein Gulag. Und niemand kennt sein Strafmaß. Niemand hat dich hier eingeliefert, du bist von selber gekommen. Ein Zurück gibt es nicht. Dir bleibt nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, bis deine physische Hülle zerfressen ist. Bis es endlich vorbei ist. Und immer wieder quält dich die eine Frage: Wer ist der Herr dieser Zone, wer steuert die Prozesse, kürt die Helden, denen man nacheifern soll?
Manchmal kommst du vielleicht zu dem Schluss, dass du selber dieser Herr bist. Die richtige Antwort auf diese Frage ist aber komplizierter: Jeder hier lebt nämlich in der Gruft, die er sich selber geschaufelt hat, jeder wählt seine eigenen Helden und ist sein eigener Chef. Dabei sind die Grüfte und die Helden für alle Mumien dieselben, denn anders kann es in dieser Welt nicht sein. Die Mumien sind vereint in einer gemeinsamen Religion. Ihr Name ist Seelenlosigkeit.
Wir alle hier sind seelisch verarmt. Bei einer Präsentation der neuen Handtaschenkollektion von Tod’s sieht man diese Furien, die mit brennenden Augen hin und her rasen, als wäre ein Feuer ausgebrochen. Sie räumen mit spitzen Ellenbogen die Verkäufer aus dem Weg und fegen alles von den Regalen, was zuvor säuberlich aufgebaut wurde. Später dann, in der Nacht, trifft man sie allesamt in dem neuen angesagten, gerade eröffneten Restaurant wieder. Da hocken all diese kauenden und trinkenden Mannequins und tragen auf ihren Gesichtern den Ausdruck einer erfüllten Mission. Man kann deutlich erkennen, dass der ganze Sinn ihres Lebens nur darin besteht, an einem einzigen Tag ihren gesamten Monatslohn für Essen, Kleidung, Accessoires rauszuschmeißen. Vermutlich sind sie wirklich glücklich nur in diesem kurzen Augenblick, in dem sie ihren Einkauf bezahlen. In diesen wenigen Momenten, wenn sie ihr Geld gegen greifbares Vergnügen tauschen. Und dann überlegen sie, womit sie den nächsten Tag füllen sollen. Sie erinnern mich an die New Yorker Obdachlosen, die man uns zu Zeiten der Sowjetunion im Fernsehen gezeigt hat; die in öffentlichen Suppenküchen, mit dicken Wollmützen auf den Köpfen,
an den Händen Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern und vor der Brust Pappschilder: HOMELESS. WILL WORK FOR FOOD.
Wenn ich die seelenlosen Gesichter unserer Moskauer Mumien betrachte, möchte ich ihnen auch am liebsten ein Schild vor die Brust hängen: SEELENLOS. ARBEITE FÜR ESSEN (UND KLAMOTTEN) und darunter das Logo von Dolce & Gabbana.
Es ist eine Katastrophe. In kaum hundert Jahren ist die Gesellschaft in unvorstellbarem Maß degeneriert. Während die Menschen in früheren Zeiten danach strebten, etwas aus ihrem Leben zu machen, wollen ihre Nachfahren nur noch in einen bestimmten Club eingelassen werden. Noch am Anfang des vergangenen Jahrhunderts hieß der Held unserer Gesellschaft Pascha Kortschagin – jener Junge, der für die Große Revolution kämpfte. Heute ist daraus Pascha Facecontrol geworden, der junge Mann, der am Eingang eines Nachtclubs steht. Er plustert sich auf, quatscht hanebüchenen Blödsinn und gibt uns Ratschläge, wie wir auf dem schnellsten Wege zu Vollidioten werden können. Er, Pascha Facecontrol, herrscht über die Passwörter, die entscheiden, wer in das Spiel, in die 3-D-Welt der Mumien eingelassen wird und wer nicht.
Ich liege also in meiner Wanne, das Wasser ist inzwischen kalt, und frage mich, wie nahe ich selber dieser Gruft wohl schon gekommen bin. Eigentlich ist mir klar, dass ich längst mit einem Bein drin stehe. Immer mehr meiner Zeit verpulvere ich mit blödsinnigen Partys, Mode-Präsentationen und Open-Air-Veranstaltungen. Die Zahl der Promoter, Gastronomen,
Designer und Dealer, die mich per Handschlag begrüßen, steigt beständig. Ich werde immer tiefer hineingezogen. Anfangs dachte ich, dass mir modische
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