Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Klamotten nun einmal gut stehen. Jetzt glaube ich, dass ich von Anfang an einer von ihnen werden wollte. Wodurch unterscheide ich mich noch von diesem Sumpf? Oder besser: Was zieht mich aus diesem Sumpf heraus? Muss ich für immer in diesem Babylon festsitzen, oder finde ich irgendwann meine Stadt Kitesh?
Ich steige aus der Wanne und wickle mich in ein Handtuch. Meine Zähne klappern, aber nicht so sehr vor Kälte als vor Angst. Irgendwo klingelt mein Handy. Ich finde es in der Innentasche meines Jacketts. Ein Bekannter ist dran, an dessen Gesicht ich mich kaum erinnere. Er sagt:
»Grüß dich, Alter! Was ist, warst du gestern unterwegs? War’s gut?«
»Geht so«, antworte ich.
»Was machst du gerade?«
»Ich bin zu Hause.«
»Hast du was? Hahaha?«
Ich hole aus und schmeiße das Telefon an die Wand. Es prallt ab und schlittert mir vor die Füße. Das Display ist erloschen, aber der Lautsprecher funktioniert seltsamerweise noch.
»Hallo? Bist du noch dran?«, fragt der Typ am anderen Ende. »Ich höre dich nicht mehr, du bist irgendwie abgesoffen.«
Ich zerquetsche das, was von dem Telefon noch übrig ist, mit dem Fuß. Jetzt ist er still.
Ich glaube, ich bin tatsächlich abgesoffen.
Die Literaten
Der Sonntag beginnt bei mir mit Internetsurfen. Ich klappe das Notebook auf, gehe ins Internet und tippe www.litprom.ru ein. Der Bildschirm färbt sich in rotgoldenen Tönen, mit einer Art Mix aus UdSSR, Proletarier aller Länder und unerfüllten imperialen Gelüsten. Eben das, was für die nächsten fünfzig Jahre die Grundsteine der russischen Ideologie bleiben werden …
Jeden Besucher dieser gegenkulturellen Website (wie sie sich selber nennt) empfängt ein Slogan: »Das letzte Bollwerk des Geistes im Internet«. Der Typ, der dieses Internet-Panoptikum erschaffen hat, muss entweder mal ein großer Fan der russischen nationalen Idee gewesen sein, oder er will uns einfach bloß verarschen. Das Gros der Besucher dieser Site besteht aus Graphomanen der schlimmsten Sorte, Pseudo-Poeten, die seitenlang ungebremst vor sich hin reimen, Büroangestellten, die die Arbeitszeit totschlagen müssen, aus Junkies, durchgeknallten Nationalisten, Müßiggängern wie mir und anderem Gesindel. Ab und zu findet man auch mal ein paar wirklich interessante Texte – Früchte der zerrütteten Psyche unserer Zeitgenossen, und oft kann man hier an Wortgefechten teilhaben, die eine wahrlich großmeisterliche Beherrschung der Gossensprache demonstrieren. Amüsant sind auch die Berichte über das schwere
Leben der russischen Landbevölkerung, deftig gewürzt mit einer Prise derbem bäuerlichem Humor. Kurz, wenn es diese Internetsite nicht gäbe, müsste man sie schleunigst erfinden.
Dieser Site also statte ich gelegentlich einen Besuch ab, wenn ich mein Hirn ein wenig entspannen will. Es ist ja allgemein bekannt, dass einem das eigene beschissene Leben gleich viel weniger beschissen vorkommt, wenn man sich die Depressionen anderer Leute ansieht, hervorgerufen durch schwerste Alkohol- und Drogenabhängigkeit, desaströse Lebensumstände und totale Perspektivlosigkeit.
Ich lade die Seite und sehe ein Banner mit folgendem Text: »Litprom-Meeting. Leser und Autoren treffen sich heute um 18.00 Uhr in der Bar Der Krug an der Metrostation Kurskaja.« Ich klicke auf das Banner und gelange ins Gästebuch, das die User mit Hunderten von euphorischen Kommentaren überschwemmt haben, in der Vorfreude auf das erwartete Treffen mit ihren Saufkumpanen. Nachdem ich ein paar Seiten gelesen habe, merke ich, dass ich regelrecht neidisch werde. Ich lasse mich von der allgemeinen Stimmung mitreißen und verspüre bald den dringenden Wunsch, mich dieser Meute zuzugesellen. Es dürfte immer noch um einiges besser sein, den Abend mit notorischen Säufern zu verbringen, die sich für Literaten und Rebellen halten, als allein zu Hause zu sitzen und mit seinem Whiskeyglas trübselige Dialoge zu führen.
Ich ziehe also meine zerrissenen Jeans an, krame aus der hintersten Ecke meines Kleiderschranks meinen dunkelblauen Paul & Shark-Pullover hervor und die alten Sneakers aus dem Schuhschrank, die ich mir vor ewiger Zeit bei einem
Landausflug ruinierte habe. Meine Gesamterscheinung wirkt ziemlich neutral. Für jemanden, der zu einer Sauferei mit Randexistenzen geht, aber nicht die Absicht hat, die Party zu bezahlen, ist das genau richtig.
Ich verlasse das Haus, schnappe mir eilig das erstbeste Schwarztaxi und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Es liegt
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