Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
soziale Unsicherheit, Randgruppendasein, die üblichen Probleme des Alltags – eben der ganze Blumenstrauß, der für die jungen Leute von heute so wichtig ist. Die Zukunft unserer Kinder liegt in uns … oder wie hieß das noch?«
»Man soll andere nicht an sich selber messen«, bemerkt Iwan. »Uns interessieren deine spießigen Probleme nicht – Restaurants, teure Klamotten, Autos. Wenn man die politischen Probleme eines Landes lösen will, darf man nicht an sich selbst denken, man muss sich am großen Ganzen orientieren. Die persönlichen Interessen treten hinter die Interessen der Allgemeinheit zurück. Euer kleinbürgerliches Bedürfnis, sich im Alltag bequem einzurichten, wird durch geistige Werte ersetzt. Die Einheit der Gesellschaft zum Wohle der Gesamtheit, nicht zum Nutzen eines kleinen Häufleins von Arschlöchern, die sich vorübergehend die Macht und die Verfügungsgewalt über die nationalen Ressourcen angeeignet haben. Man darf die Menschen nicht nur als potenzielle Sexualpartner ansehen, verstehst du das oder verstehst du das nicht? Ach was, du wirst nie irgendwas verstehen. Aber das ist allein dein Problem.« Iwan leert mit einer verwegenen Geste sein Glas und lehnt sich triumphierend zurück.
»Doch, doch, ich verstehe dich durchaus. Man soll sich den Menschen gegenüber so verhalten, wie du willst, dass sie sich dir gegenüber verhalten. Also sie mit Drogen vollpumpen,
bis sie ihnen zu den Ohren wieder rauskommen, sie mit Kettensägen zerlegen, mit Lötkolben malträtieren, sie chronisch unter Alk setzen und dann von Hunden durchvögeln lassen. Darin besteht doch deine Position der bürgerlichen Einigkeit, oder? Glamour und rasierte Mösen für alle und als Sahnehäubchen Massenerschießungen. Hab ich das richtig verstanden?«
Ich warte die Antwort gar nicht erst ab. Ich verziehe mich lieber aufs Klo und lasse sie in Ruhe den Sieg über den ideologischen Gegner feiern – der, nebenbei bemerkt, gar keine Ideologie hat. Meine Güte! Da hocken sie zusammen und diskutieren dieses blödsinnige Programm von Limonows Nationalbolschewiken. Kinder aus wohlhabenden Familien zusammen mit den Kindern von Proleten. Als seien sie alle Brüder und Schwestern, alle von ein und derselben Idee bewegt, vom Ideal der Gleichberechtigung und der Gerechtigkeit für alle. Aber diese verdammte Illusion der Einigkeit löst sich sehr schnell in Luft auf, sobald die ersten von ihnen die Uni abgeschlossen haben und eine Karriere als Jurist, Ökonom oder Bankangestellter beginnen, während die anderen, wie es ihnen zusteht, als Lastwagenfahrer, Hilfsarbeiter und schlecht bezahlte Systemadministratoren schuften müssen. Dann ist wieder alles, wie es sein soll. Das Leben der ehemaligen Kumpanen verläuft zwar parallel, aber auf unterschiedlichem sozialem Niveau. Jahre später werden die einen sich mit nostalgischem Schmunzeln an den witzigen »Führer der russischen Revolution« erinnern, die anderen werden wehmütig der glücklichen Zeit gedenken, als die Zukunft ihnen so strahlend und verheißungsvoll erschien, als sie noch daran glaubten, dass sie die Welt verändern könnten.
Aber das wird erst sehr viel später sein, wenn die Kinder von heute so um die dreißig oder vierzig sind. Vorausgesetzt, sie sind nicht an Drogen oder Alkohol verreckt.
Nur heute, an diesem Abend, möchte keiner über seine Zukunft nachdenken. Alle sind unglaublich besoffen und super gut drauf. Und alle, ich sage es noch einmal, sind die besten Kumpels.
Als ich vom Klo zurückkomme, setze ich mich ans andere Ende des Tisches, zu dem rundlichen Typen, der im Internet unter dem Namen Awdej agiert. Ich überschaue das ideologische Schlachtfeld und stelle fest, dass sich der politische Debattierklub, wie ich mir schon dachte, in eine einzige Knutscherei und Saufseligkeit verwandelt hat. Die Limonow-Ausdrucke liegen unter dem Tisch, zertreten von den Füßen der Revolutionäre. Ein paar von ihnen sind schon weggepennt, für sie ist die Revolution für heute vorbei.
Awdej hat gerade die nächste Rede beendet und starrt mich an.
»Trinkst du einen mit?«, fragt er und steht auf, um sich neben mich zu setzen.
»Klar, Alter, deshalb bin ich ja hier. Wie sieht’s denn bei dir so aus mit der Gegenkultur? Wann rufst du das Volk auf die Barrikaden?«
Das Volk rückt derweil respektvoll von uns ab, es versteht, dass die Gespräche des Führers der Internetseite mit gelegentlich vorbeikommenden Yuppies nur extrem ernsthafter Natur sein können.
»Es geht
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