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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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eine Macht existiert, die Gutes schafft und sich um das Wohl der Allgemeinheit kümmert, und die ihnen jederzeit zu Hilfe eilen kann. Auf der Schiene muss man diese nationale Idee verkaufen. Damit man weiß, wofür man lebt und Kinder großzieht.«

    »Klingt nach so einer Art Buddha.«
    »Na ja, in Kalmückien könnte man vielleicht einen Buddha-Man nehmen, meinetwegen.«
    »Nee, da ist Kirsan Chef, da geht so was nicht.«
    »Lass Kirsan in Ruhe! Der ist in Ordnung! In Kalmückien gibt es kostenlose Ausbildung, kostenlose medizinische Versorgung und Kamele für alle. Keinem stinkt es, dass Kirsan mit seinem Rolls-Royce durch die Steppe schaukelt. Im Gegenteil, alle denken: selber schuld, bei den Straßen. Außerdem hat er für die Verbreitung des Schachspiels gesorgt. In Kalmückien gibt es keine Erdölkönige, sondern nur Schachkönige. Und das Fernsehen zeigt keine klauenden Oligarchen mehr. Es wird überhaupt nicht mehr geklaut. Im Fernsehen sieht man nur noch Schachturniere. Und warum? Weil das Volk an seinen Präsidenten glaubt. Für sie ist er ein Batman!«
    »Du meinst also, wenn man keine klauenden Oligarchen mehr im Fernsehen zeigt, hören sie auf zu klauen? Glaubst du das wirklich?«
    Mischa zündet den erloschenen Joint wieder an und antwortet nicht. Es entsteht eine Pause. Ich sitze da und betrachte ihn, wie er auf seinem Stuhl gleichmäßig hin und her schaukelt. Der Anblick dieses menschlichen Metronoms schläfert mich ein. Die Uhr zeigt schon halb vier. Ganz weit weg läuft »Desintegration« von The Cure. Stumpfsinnig sehe ich zu, wie Mischa versucht, den Ton leiser zu stellen und dabei mit der Hüfte die Teetasse vom Tisch schiebt. Sie fällt ganz langsam zu Boden, direkt auf die Zeitung. Das Papier saugt die Flüssigkeit auf, und der Tee verwandelt Chodorkowski in einen Neger. Er sieht jetzt aus wie Nelson Mandela.
Wie ein Blitz schießt mir die Erkenntnis ins Hirn, dass er so schnell wie möglich aus dem Gefängnis entlassen werden muss, sonst machen die schlitzohrigen Oligarchen einen Märtyrer aus ihm, sammeln Unterschriften und Kohle und gründen einen Fonds zur Befreiung des Landes vom kriminellen Apartheitsregime, das die russischen Unternehmer knechtet. Mit Sicherheit haben sie die ganze Sache absichtlich so eingefädelt, damit sie bei der nächsten Wahl in Chodorkowski einen Anführer mit der Reputation eines politischen Gefangenen vorweisen können. Wenn sie dann an die Macht gekommen sind, richten sie die Wohnung komplett neu ein und kümmern sich keinen Fatz um die Interessen der alten Bewohner. Diese Erkenntnis versetzt mir den Knock-out. Ich hebe die Zeitung auf, tippe mit dem Finger auf Chodorkowski und versuche, Mischa meinen Gedanken zu erklären, aber aus meiner trockenen Kehle kommen nur unartikulierte Laute: »Blblblbl, Mandelaaaaa!«
    Mischa hebt sein Gesicht, sieht mich angstvoll an und sagt: »Kommunalka … die sind so schlau, verdammte Scheiße!« Und wir sehen uns an, erschrocken, dass wir unsere Gedanken lesen können. Woraus folgt: Wir sind bis unter die Haarwurzeln bekifft.
    »Oh Mann«, krächzt Mischa. »Zum Teufel mit der Politik. Wir haben so viel gequatscht, dass wir schon Neger sehen. Ich muss pennen. Ab ins Bett.«

Das SSSR
    Am nächsten Tag, exakt um elf Uhr morgens, macht mein Handy den letzten Versuch, mich mit seinem penetranten Klingeln zu wecken, dann gibt es den Geist auf. Aber das Geplinker ist wohl doch in mein vernebeltes Hirn durchgedrungen, denn ich klappe auf einmal die Augen auf. Wenn man in einer fremden Wohnung erwacht, erfährt die gewohnte räumliche und zeitliche Orientierung zwangsläufig eine Störung. Umso mehr, wenn man am Abend zuvor einen dicken Haufen Gras weggequarzt hat. Folglich brauche ich eine gewisse Zeit, um mich zu lokalisieren.
    Dann stehe ich auf und schlurfe in die Küche. Dort stinkt es ekelhaft nach kaltem Zigarettenrauch. Ich setze den Teekessel auf und begebe mich ins Bad.
    Ungeachtet der gestrigen Einnahme von Tetrahydrocannabinol ist mein Befinden im Großen und Ganzen ziemlich in Ordnung, wenn man davon absieht, dass ich wieder einmal nicht richtig ausgeschlafen habe. Aber dieser Zustand ist bei mir längst chronisch. Ich gehe zurück in die Küche, gieße kochendes Wasser in einen Henkelpott, hänge einen Teebeutel rein, verdünne das Gebräu mit kaltem Wasser und nehme ein paar Schlucke. Der Gedanke, das Zeug zu trinken, ist mir zuwider, deshalb spüle ich mir nur den Mund damit
aus, spucke alles ins Waschbecken und

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