Seelenkuss / Roman
bizarren, albtraumhaften Zoologischen Garten.
»Deine Mutter und ich haben vor einer Weile ein Kaninchen gesehen.«
»Sind die Tiere in Käfigen?«
»Nicht alle von ihnen.«
»Aber fressen sie sich denn nicht gegenseitig?«
»Nein. Die Burg sorgt dafür, dass niemand hungrig oder durstig ist. Du warst nicht lange genug dort, um es zu bemerken.«
»Dann isst man da nie?«
Wie viele Fragen kann sie in weniger als einer Minute stellen?
»Nein, niemals – zumindest nicht die alten Bewohner, wie ich.«
»Das ist doch Mist! Nicht mal Schokokekse?«
»Das Schicksal ist eine harsche Herrin.«
Sie verzog das Gesicht. »Du machst dich über mich lustig.«
»Nur ein wenig.«
»Klar, ich bin ja bloß ein Kind!«
»Unterschätze nicht, wie wundervoll dieser Umstand einen alten Soldaten wie mich anmutet.«
Sie rümpfte die Nase. »Du bist doch gar nicht alt. Grandma ist alt.«
»Ich bin es auch. Ich lebe schon sehr lange Zeit und bin an viele Orte gereist.«
»Du redest, als ob du aus England kommst.«
»Ja, ich lebte in England. Aber ich war auch in anderen Ländern. In Flandern, Italien, Deutschland, Indien.«
»Indien? Hast du Elefanten gesehen?«
»Natürlich. Und einige Löwen und Tiger ebenfalls.«
»Und Bären?« Edens Augen leuchteten.
»Nein, Bären nicht«, antwortete er und dachte, dass nun sie sich über ihn mokierte, obgleich er nicht begriff, warum sie das hätte tun sollen.
Sie schob ihm eine Kekstüte hin. »Hier, nimm einen Schokokeks.«
Er nahm einen und biss hinein. Der Keks war widerlich süß, aber Reynard aß ihn trotzdem.
»Wieso warst du in Indien?«, fragte sie mit vollem Mund.
»Der König sandte mich. Und ich wollte für eine Weile von zu Hause weg.« Von seinem Vater. Von Elizabeth. Von der Tatsache, dass sie seinem Bruder einen Sohn geschenkt hatte. Merkwürdig, aber die Erinnerung brannte nicht mehr wie früher.
Eden beobachtete ihn in der aufmerksamen Weise, die Kindern eigen war. »Hattest du kein Heimweh?«
»Doch, aber ich schaute mir den Nachthimmel an, wie in deinem Buch. Wenn man die Welt bereist, hilft es sehr zu wissen, dass die Menschen daheim denselben Himmel betrachten wie man selbst. Und es hilft auch, mit dem Schiff den Weg nach Hause zu finden.«
»Du kannst an den Sternen sehen, wohin du musst? Kann ich Spanien finden, wenn ich die Sterne angucke?«
»Sterne sind wie eine Landkarte. Mit ihnen kannst du von überallher deinen Weg erkennen.«
»Gibt es in der Burg Sterne? Ich habe keine gesehen.«
»Nein, dort gibt es keine.«
Dort gibt es keinerlei Verbindung zu irgendjemandem. Man ist wahrhaftig allein.
Eden blickte düster in ihr Buch. »Ich kann mir diese Karte nicht merken, und wir müssen in der Arbeit die Sternennamen wissen.«
Reynard drehte das Buch zu sich. Dort war eine Karte des Nachthimmels mit Linien und Punkten abgebildet, welche die Hauptkonstellationen markierten. Dann sah er aus dem Fenster über dem Spülbecken. Es wurde gerade erst dunkel, war folglich noch nicht finster genug, dass er es sie so hätte lehren können, wie er selbst es gelernt hatte: indem er mit seinem Lehrer gemeinsam den Nachthimmel anschaute.
Er überlegte. »Manchmal hilft es, sie sich anhand von Geschichten einzuprägen, die man sich erzählt. Kennst du die griechischen Sagen?«
Eden rümpfte wieder die Nase. »Von den Göttern und Göttinnen?«
»Ja, sie spielen eine Rolle.« Und dann begann er, ihr die Geschichten zu erzählen, die er kannte: von Herkules’ Löwen, den Zwillingen Castor und Pollux, Orion dem Jäger. Dabei zeigte er auf jeden von ihnen, sowie sie am Abendhimmel erschienen.
Ashe hörte mit einem halben Ohr zu, während sie Mehl abmaß und versuchte, das Rezept zu verdoppeln, ohne sich zu verrechnen. Reynards Stimme war sanft, seine Geschichten eingebettet in die Eleganz und das Heldentum einer fernen Zeit. Zwar wusste sie nicht, wie es Eden ging, doch sie würde kein Wort von dem vergessen, was er erzählte.
Als er endete, schweiften ihre Gedanken wieder ab. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte mit Holly und Grandma alle Bücher nach dem perfekten Dämonen-Aufspürzauber durchgesehen, Dutzende Telefonate geführt, um Neuigkeiten über Dämonen oder Vampire zu erfragen, und immer wieder nach Eden und Reynard gesehen, ob es ihnen gut ging. Auch ihren Hacker-Freund hatte sie wieder kontaktiert, damit er herausfand, welche Immobilien der Dämon noch gekauft hatte. Keine Reaktion. Was ihr keine Sorgen bereitete. Er verschwand
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