Seelenkuss / Roman
brennende Fackeln gaben einen dumpfen orangen Schein ab. Eigentlich hatte Reynard erwartet, die anderen Wächter hier anzutreffen, doch anscheinend hatten sie den Flüchtigen bereits festgenommen und fortgebracht.
Er hatte seine Arbeit ohnedies erledigt. In seiner Eigenschaft als Captain der Wachen, die für diesen Teil der Burg zuständig waren, war er in die Welt hinausgegangen und hatte einen Gefangenen zurückgeholt. Tausende Male hatte Reynard das schon gemacht und würde es noch Tausende Male tun. Seine Pflicht endete erst, wenn er getötet wurde oder die Anderweltmagie der Burg schwand. Flüchtige zu verfolgen bildete die einzige Abwechslung, die er kannte.
Man sollte meinen, dass er sie schätzte. Stattdessen hasste er es, die Burg zu verlassen. Weil er es hasste zurückzukommen. Es war grausam, Freiheit zu kosten, die ihm nach wenigen Stunden wieder geraubt wurde.
Die Außenwelt barg alles, was Reynard verloren hatte, und alles, was er sich zu nehmen versucht sein könnte. Hunger, Durst, Lust, Freude – all das wurde von der uralten Magie in der Burg unterdrückt, damit sowohl eine Überbevölkerung als auch die Vernichtung der schwächeren Arten vermieden wurde. Umso perverser erschien der Umstand, dass Wut und Bitterkeit blieben. In der Burg gab es wenig Liebe, aber viel Krieg.
Im Gegensatz dazu schärfte die Außenwelt Reynards Appetit nach Jahrzehnten des Nichts. Empfindungen, ausgelöst etwa durch längst vergessene Farben oder den Duft des Grases, den Wind an seiner Wange, regten sich in seinem Innern, verharrten einen Moment, ehe sie im Staub der Erinnerung versanken.
Verlangen, das eben noch schwindelerregend gewesen war, überdauerte einzig in seiner Phantasie. Er stellte sich Ashe Carvers Leib unter seinem vor, warm und weiblich, inmitten einer Thymianwolke, die sie beide einhüllte. Sie war stark, wenn auch keine Gegnerin für einen Wächter. Ihm fielen abertausend Möglichkeiten ein, wie er ihr diese Stärke demonstrieren könnte. Er kostete seine Sehnsucht aus, prägte sie sich gut ein, bevor auch sie sich in Spinnweben verwandelte.
Reynards eiserne Disziplin war weithin bekannt. Nur wenige überlegten, warum sie nötig war oder was passieren würde, sollte sie nachlassen. Er selbst jedoch entsann sich sehr gut, wer und was er vorher gewesen war: ein reizbarer Weiberheld, Spieler und Duellant. Er verkörperte alles, wovor eine Mutter ihre debütierende Tochter warnte. Jener Mann war Reynard seit langem nicht mehr, und dennoch erwachte der Teufel in ihm von Zeit zu Zeit.
Er wischte sich den leichten Schweiß vom Gesicht und begann, den Korridor hinunterzuwandern, ohne sich groß umzusehen. Es gab keine Fenster, keine Aussicht auf irgendeine Landschaft. Die Burg bestand ausschließlich aus ihrem Innern: einem endlosen Labyrinth von schattigen Korridoren und Kammern mit gewölbten Decken. Der Kerker hatte seinen Zauber des Neuen vor annähernd zweieinhalb Jahrhunderten verloren, aber was konnte man von einem ewigen Fluch erwarten? Soweit Reynard wusste, wurden alle Flüche mit großen Fanfarentönen eingeleitet, erinnerten aber letztlich doch nur an eintönige Lieder. Am Ende verklangen sie im Hintergrund wie das Ticken einer Uhr:
verdammt, verflucht, verdammt, verflucht.
Eigentlich erdrückend langweilig.
Ein oder zwei Kammern weiter hörte er Mac in voller Lautstärke singen – falls man von Gesang sprechen konnte. »Ich schieß den Ha-a-a-a-sen ab!«
Unweigerlich musste Reynard schmunzeln. Mac war ein menschlicher Gesetzeshüter gewesen, der zum Feuerdämon wurde und sich heute als Chef der Burgwachen bezeichnete. Vieles bewunderte Reynard an ihm: seinen Mut, seine Loyalität und seinen scharfen Verstand. Aber mindestens ebenso vieles wunderte ihn auch.
»Ich schieß den Haaaasen ab!«
Wunderte Reynard sehr.
Er bog um eine Ecke. Mac hielt sich in einer kleinen Kammer zur Linken auf, wo er etwas in den Dienstplan eintrug, den er dort aufgehängt hatte. Mac war groß, einen Kopf größer als Reynard, und sehr muskulös. Er trug die gleiche moderne Kleidung wie die meisten Menschen in der Außenwelt: Jeans und ein T-Shirt, das seine tätowierten Arme unbedeckt ließ. Für Reynard kam er einem Freund so nahe wie niemand mehr seit mindestens hundert Jahren.
»Hast du den Ha …, ich meine, den Phouka getötet?«, fragte er. »Ich dachte, du wolltest ihn nur wieder einfangen.«
Mac sah ihn entsetzt an, was umso seltsamer wirkte, als Dämonenfeuer in seinen Augen glühte.
Weitere Kostenlose Bücher