Seelenkuss / Roman
wahrgenommen, als er zur Jagd im Botanischen Garten war. Er konnte gar nicht genug von ihm bekommen.
»Nicht hyperventilieren!«, ermahnte Ashe ihn, die den Wagen aufschloss, damit Eden einsteigen konnte. »Weißt du, wo du schlafen kannst? Ich hätte eine Couch anzubieten.«
»Danke, ich habe Arrangements getroffen«, erwiderte Reynard, der wünschte, er könnte ihr Angebot annehmen. So wenig er ihr von der Seite weichen wollte, würde es unweigerlich zum Thema Betten und Wonnen und zu der Entscheidung führen, sich wie ein Gentleman zu benehmen oder wie ein Verzweifelter mit der Lebensspanne eines Flohs. Ersteres wäre öde, Letzteres würdelos. »Um welche Zeit treffen wir uns, um Lor aufzusuchen?«
»Ich rufe ihn morgen früh an. Da ist Eden beim Klavierunterricht und hinterher beim Schwimmen. Ich bringe sie hin und fahre kurz ins Fitnesscenter. Triff mich um halb zehn im Morgan’s Gym. Die Leute, die wir brauchen, müssten bis dahin auf sein. Dann planen wir alles Weitere.« Seufzend schlug Ashe die Beifahrertür zu. »Quatsch, du weißt ja gar nicht, wo das Fitnesscenter ist!«
»Ich finde dich«, erwiderte er. »Das ist kein Problem.«
»Pass auf, was du sagst! Das hört sich ein bisschen nach Stalker an.«
»Deine Welt ist verwirrend«, entgegnete Reynard leise lachend und blickte nach oben. »Sogar die Sternenkonstellationen sind schwerlich auszumachen.«
»Lichtverschmutzung.«
»Bedauernswert.« In der Burg gab es keine Sterne, und diese Leere war ihm mächtig aufs Gemüt geschlagen. Dass ihm selbst der Himmel genommen war, hatte ihm das Gefühl gegeben, wahrhaftig von allem Vertrauten abgeschnitten zu sein. Bei dem Gedanken an diesen Verlust fröstelte es ihn bis heute.
Angesichts so vieler Einbußen konnte ein Mensch dem Wahnsinn verfallen. Vielleicht war es das, was Wächter wie Killion zu rasenden Mördern werden ließ.
Als Ashes und sein Blick sich begegneten, stellte er fest, dass das leuchtende Smaragdgrün von der Dunkelheit gedämpft war. »Eines muss ich gestehen. Seit dem letzten Herbst – du weißt schon, als du so schwer verwundet warst – habe ich mich oft gefragt, ob es dir gut geht. Tut mir leid, dass ich nie angerufen habe. Oder geschrieben. Oder irgendwas.«
»Ich wusste nicht, dass du dich meiner entsinnst«, sagte er.
Sie zog die Brauen zusammen. »Selbstverständlich! Es war bloß, dass ich …«
Reynard hob eine Hand, um sie zu unterbrechen, denn er bedauerte seine Worte. »Ich war in der Burg gefangen. Du musstest deine Tochter nach Hause holen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.«
»Ich will einfach, dass du weißt, dass ich dich nicht vergessen hatte«, sagte sie achselzuckend.
»Danke.« Ihm war, als müsste er mehr sagen, er war sich aber nicht sicher, was sie hören wollte.
»Okay.« Ashe rieb sich die Augen. »Morgen früh beim Fitnesscenter. Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«
»Nein, vielen Dank.« Reynard verschränkte seine Arme, um ja nicht die Hand nach ihr auszustrecken. »Gute Nacht.«
Ashe wühlte hinten im Wagen und reichte ihm die Einkaufstüte mit den Taugriffen, in der sich seine Uniform und Wechselkleidung befanden. Als er sie nahm, zögerte Ashe. »Morgen werden wir echte Fortschritte in der Urnensache machen. Versprochen! Wir reden mit Lor, falls er da ist. Anschließend muss ich mich für meine Schwester um einen Geist kümmern.«
»Das werde ich gewiss genießen.«
Für einen Moment arbeitete es erkennbar in ihr. »Ich sagte nicht, dass du mich begleitest.«
»Ich sagte nicht, dass ich es nicht täte«, erwiderte er mit strengem Blick.
Sie wandte sich verärgert ab. »Englischer Idiot!«
Reynard schmunzelte. Er hatte gewonnen, was immerhin schon einmal ein Anfang war.
Ashe und ihre Tochter fuhren in die Nacht hinaus, die Rücklichter glühend wie unheimliche Augen. Eine ganze Weile blieb Reynard in der Dunkelheit stehen und betrachtete die Nacht. In Grandma Carvers Fenster erloschen die Lichter. Eine Katze trottete vorbei, die sich aufmachte, ihr Revier zu patrouillieren.
Es war angenehm, in der Außenwelt zu sein, die Illusion von Freiheit zu genießen. Vielleicht wollte er Ashe und Eden deshalb unbedingt helfen. Er tat es aus freiem Willen, und es hatte nichts mit jener Pflicht zu tun, die ihn erbarmungsloser einsperrte, als es die Steinmauern der Burg jemals gekonnt hätten.
Mit selbiger Pflicht hatte er bereits gerungen, ehe er um deren Existenz wusste.
Einige Jahre nachdem er das schwarze Buch mit
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