Seelenkuss / Roman
ihre Ablehnung hinnahm. Jemals. Er hatte nicht Jahrhunderte in der Burg überlebt, indem er sich nachgiebig zeigte. Er hatte gelernt, den richtigen Moment abzuwarten. Falls nötig, würde er Ashe schlicht überlisten.
Dieser Gedanke durchströmte ihn ähnlich einer Weihrauchnote, die für Reynard gleichermaßen Inspiration wie Nostalgie verhieß, hatte er doch die Salons von einst durchstreift. Wie ergötzlich waren jene Tage doch gewesen! Ihr süßes Andenken verharrte wie ein Parfum. Zu seiner Zeit war Reynard meisterlich darin gewesen, die Damen mit seinem Charme zu bezaubern. Gewiss könnte er eine ihrer Nachfahrinnen auf dieselbe Weise gewinnen. Zu Ashes eigenem Besten, verstand sich.
Zumindest bis er von seinem hohen Ross stürzte, dachte er zynisch.
Sein Gedankenfluss wurde jäh unterbrochen, als er Eden sah. Das Kind lag zusammengerollt auf dem Sofa, ihr Buch an die Brust gepresst und die braunen Augen weit aufgerissen. Reynard stellte den Teller auf den kleinen Tisch neben ihr.
Eden starrte ihn stumm an, als erwartete sie noch etwas anderes. Der Lebemann in Reynard zog sich zurück, wich dem weiseren, härteren Mann.
»Wünschst du sonst noch irgendetwas?«, fragte er sanft.
Ihr Blick wanderte zum Esszimmer, wo Ashe und ihre Großmutter leise stritten. »Ich dachte, Mom kommt«, sagte das Mädchen mit zarter Stimme.
Sie wollte eigentlich keinen Kuchen, sondern ihre Mutter.
Es bedrückt sie etwas.
Reynard lauschte einen Moment, um zu hören, was das Mädchen vernahm. Aus der Entfernung und ohne die Gesten und die Mimik klang der Streit anders: die tiefe rauchige Stimme der alten Frau, Ashes hellere, klarere, die unverkennbar angespannt war.
Seine Ohren verrieten Reynard, was er nicht gesehen hatte:
Angst.
Ihm war nicht entgangen, dass Ashe sich innerlich in Stücke riss. Ihre nach außen gekehrte Selbstsicherheit war ein Bluff, mit dem sie die entsetzliche Angst überspielte, sie könnte ihre Tochter im Stich lassen. Indessen nahm Eden lediglich die Furcht ihrer Mutter wahr, und eine verängstigte Mutter machte ihre Tochter ängstlich. Zwar war Reynard kein Fachmann, was Kinder anbelangte, doch er hatte Soldatenfamilien erlebt, die während des Krieges den Truppen folgten. Diesen panischen Blick kannte er. In den damaligen Fällen hatte er stets etwas Praktisches angeboten: Nahrung, Wasser, Schutz. Hier war er ratlos.
Er setzte sich neben Eden, die ihr Buch losließ, worauf es zu Boden glitt. Reynard blickte auf den Titel:
Prince Caspian.
Nichts, was er kannte.
»Es ist leichter, wenn man als einsamer Wolf unterwegs ist«, sagte die Großmutter nebenan.
»Und wie«, entgegnete Ashe, die leise sprach, aber leider nicht leise genug.
Eden sah verwirrt zu Reynard auf. »Wieso will Mom immer allein sein?«
Verfluchter Dreck! Sie denkt, dass Ashe sie nicht bei sich haben will.
Dabei musste man nur erleben, wie Ashe das Kind anschaute, und man wusste, dass allein die Vorstellung grotesk war. Ashe liebte ihre Tochter über alles.
Dennoch befanden Mutter und Tochter sich wegen einer ganzen Reihe von Missverständnissen auf Kollisionskurs. Ähnlich wie einst Reynard und sein Bruder. Familien hatten sich im Laufe der Jahrhunderte nicht sehr verändert.
Reynard fluchte im Geiste. Verführung, ja, derlei Spielchen beherrschte er. Er konnte kämpfen, spielen und amüsant plaudern, wie man es von einem Gentleman am Dinnertisch erwartete. Trost zu spenden, war eine andere Sache, in der er noch nie brilliert hatte. Er war dazu erzogen worden, keinerlei Schwäche zu zeigen, und die Burg erstickte jedwedes Mitgefühl im Keim. Trotzdem wich er dem bleiernen Gefühl in seinem Magen nicht aus. Und da er nach wie vor nicht wusste, was er zu einem Kind hätte sagen können, hielt er sich an die Wahrheit.
»Du weißt wohl, dass deine Mutter von Zeit zu Zeit gegen Monstren kämpft«, sagte er in der Hoffnung, die Intelligenz des Mädchens nicht zu beleidigen.
»Ja«, antwortete Eden matt, »das macht sie schon ziemlich lange.«
»Deshalb sind wir heute so spät gekommen. Wir hatten ein Problem, dessen wir uns annehmen mussten.«
Als sie den Blick senkte, verbargen die dichten dunklen Wimpern ihre Augen. Eden war nicht puppengleich hübsch wie manche anderen kleinen Mädchen, doch man erkannte bereits, dass sie zu einer schönen Frau heranwachsen würde.
»Ich hab euch reden gehört. Es sind böse Vampire in der Stadt.« Nervös zupfte sie an den Fransen eines Zierkissens. »Sie hätte mich nach Saint Flo
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