Seelenkuss / Roman
Stück für Stück, aber bei den Knöpfen und Tressen handelte es sich um die alten. Die Knopflöcher, die sich in Zweierpaaren über die Vorderseite erstreckten, waren sorgfältig ausgebessert worden. Keine losen Fäden, nichts Ausgefranstes. Da er so wenig sein Eigen nennen konnte, bedeutete die Uniform ihm weit mehr als ein Kleidungsstück. Sie war alles, wonach er verlangen durfte, alles, was er in seinem Leben hätte erstreben sollen, wäre er in der Welt geblieben.
Unter der Uniform lagen die anderen Sachen, die Ashe ihm gekauft hatte. Bequem, leicht, frisch, neu. Wenn sie überhaupt für irgendetwas standen, dann für das Unbekannte. Oder sie waren eben nur Socken und Hemden – simple Kleidung, ohne jedwede Bedeutung, wie es sein sollte. Normale Menschen dachten nicht über Socken nach.
Er goss Wasser in seine Waschschüssel und beugte sich über sie. Dabei fiel sein Blick in den fleckigen stumpfen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Wirbelförmige blaue Tätowierungen bedeckten seine Brust, eingefärbt von der Magie, die ihn als Wächter kennzeichnete. Sie unterschieden sich von Macs, waren primitiver. Während Macs Tätowierungen ihn als die Autorität in der Burg auswiesen, trugen Reynards das Brandzeichen des Ordens.
Der Eid – oder Fluch – hatte ihm das Leben genommen und die Dienerschaft in die Haut eingeschrieben. Der hohle Schmerz der fehlenden Urne war deutlich zu spüren. Sobald er die Burg betrat, hatte sich der Druck unter seinen Rippen eingestellt. Er wurde stärker, erinnerte Reynard, dass er so gut wie tot war. Mac hatte vorgeschlagen, dass er in einem Hotel außerhalb der Burg schlief, wo er seiner Urne näher wäre.
Ein plötzlicher Stich durchfuhr den Captain, so dass er zusammenzuckte und sich am Waschtisch festhalten musste. Er musste Macs Angebot mit dem Hotelzimmer wohl doch annehmen.
Ihm lief die Zeit davon.
Und dennoch … heute hatte er die Sonne gesehen.
Einem kleinen Mädchen Hoffnung gemacht.
Und er hatte Ashe Carver geküsst.
Zum ersten Mal seit … nun, seit er vor langem sein Leben gegen das seines Bruders eingetauscht hatte … hegte Reynard Hoffnung.
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10
Freitag, 3. April, 23.30 Uhr 101.5 FM
G uten Abend, Kinder der Nacht. Ihr hört CSUP , 101.5 FM vom wunderschönen Unicampus in Fairview, und ich bin Errata Jones, eure Gastgeberin heute Abend. Zu unserem letzten Thema heute hätte ich noch das Allerneueste anzubieten. Dank Perry Baker, meinem Lieblingswerwolfforscher und Internet-Spezialisten, habe ich eine Neuigkeit über die Wächter erfahren.
Wo, sag mir, wo kamen die alten Wachen her? Tja-hah, sie wurden von demselben lustigen Völkchen in die Burg verbannt, das sie erbaute, nämlich jenen neun Hexenmeistern, die dereinst beschlossen hatten, dass die Welt einen Kerker für alle Übernatürlichen brauchte. Da war es natürlich sinnvoll, dass man Sicherheitskräfte reinbrachte, die nicht rauskönnen, schätze ich – zumal, wenn man versucht, den Planeten von Wesen zu säubern, die magischer sein könnten als man selbst.
Der Unterausschuss für Sicherheit setzte sich übrigens aus Mitgliedern der Hexerfamilien zusammen. Es geht doch nichts darüber, die Weltherrschaft in der Familie zu belassen!
Interessant ist übrigens noch, dass sie sämtlichst Hexenmeister waren.
Und was nicht minder spannend sein dürfte: In späteren Jahren gründeten dieselben Familien eine supergeheime Gesellschaft, die sich ›der Orden‹ nannte.
Zum Schluss das absolute Highlight: Angeblich sind sowohl die Hexenmeister als auch der Orden vom Erdboden verschwunden.
Wenn mich allerdings nicht alles täuscht, betreiben sie die Burg nach wie vor. Ich meine, stammen die alten Wachen etwa nicht allesamt aus Hexerfamilien? Nun, liebe Hörer, wie seht ihr das?
Okay, es geht auf die Hexenstunde zu, und ich bin Errata Jones, die sich für heute von euch verabschiedet. Morgen um neun bin ich wieder da, und zwar mit unserem besonderen Gast, der Fachfrau für Entertainment, Mina Arcana, die uns den brandneuen Hollywood-Klatsch verrät. Ich kann es kaum erwarten, und ihr sicher auch nicht. Süchtig nach Kunstblutskandalen? Wer ist das nicht? Ich meine, ein Vampir, dem das Knabbern an fremden Hälsen vergangen ist? Was ist mit dem los?
Doch bevor ich gehe, habe ich noch einen hübschen Leckerbissen, der euch süße Träume bescheren wird. Hier kommen Nine and Twenty Blackbirds mit einem Titel aus ihrer Hit-Sammlung,
Darkest Rose
. Küsschen und gute Nacht.«
Samstag,
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