Seelenkuss / Roman
raufte sich die Haare. Trotz seiner Dämonenstärke war er sichtlich erschöpft. »Interessant – ich lass mir von Caravelli direkt erzählen, was er rauskriegt.«
Reynard packte die Sessellehnen, denn seine Hände zitterten vor Zorn. Am liebsten hätte er Frederick Lloyd nochmals zu Brei geschlagen. »Es hat sich herumgesprochen, dass zumindest eine Carver das Kind eines Vampirs gebar. Nun wollen manche mehr als nur ihre Zähne in sie versenken.«
»Scheußlich.«
Zum zweiten Mal heute Abend schilderte Reynard alles, was bisher geschehen war. Als er geendet hatte, schaute Mac angewidert drein. »Mit Miru-kai, den Vampiren und einer möglichen Dämonenflucht dürfte die einzige Spezies, die uns gerade nicht die Hölle heißmacht, die der Werwesen sein.«
»Das würde ich nicht zu laut sagen«, seufzte Reynard und bemerkte, dass er viel zu müde war, um fortzufahren. »Zu einem anderen Thema: Wie geht es Stewart?«
»Ich habe seine Mutter angerufen. Er wird noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen, aber sie meinen, dass er sich wieder erholt.«
»Ich breche Miru-kai das Genick, wenn ich ihn finde. Von ihm geht alles andere aus – wie, weiß ich noch nicht.«
Einen Moment lang schwiegen sie beide düster. Reynard hörte Constance in einem der anderen Zimmer vor sich hinsingen. Ihre Anwesenheit erinnerte ihn daran, wie er ihren Sohn gefangen nahm. Obwohl er nur kurze Zeit mit Ashe und ihrem Kind zusammen gewesen war, verstand er seither ein wenig besser, welchen Schmerz Constance litt. Es war ein Wunder, dass sie Reynard vergeben hatte, auch wenn am Ende alles gut ausgegangen war.
Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben, und dachte stattdessen an alles, was er heute gesehen hatte.
»Es ist schwierig, in der Außenwelt umherzuwandern«, sagte er mehr zu sich selbst. »Verwirrend, weil vieles unbekannt ist, und dennoch entsann ich mich einzelner Bruchstücke meines alten Lebens, die ich vergessen hatte.« Dinge, an die er sich lieber nie mehr erinnern wollte.
Mac spielte mit der Fernbedienung. »Ich wünschte, ich hätte mit dir gehen können, aber ich habe, wie du weißt, Feenprobleme. Ich habe schon über Pestizide nachgedacht, doch das könnte ein paar Tage dauern.«
Reynard lachte.
»Glaubst du, du kriegst die Urnengeschichte mit Ashes Hilfe geregelt? Falls du mich brauchst, finde ich schon jemanden, der hier die Stellung hält, und gehe mit dir nach draußen.«
»Nein, alles bestens. Heute bin ich in einem Automobil gefahren. Und in einem Fahrstuhl.«
Mac grinste. »Na, du bist mir mal ein Abenteurer!«
»Die moderne Welt bietet einiges, was für sie spricht.« Reynard stand auf. »Die Wagen sind faszinierend.«
»Dann sehe ich dich also demnächst in einem Sportcoupé hier herumflitzen?«
»Ich würde gern mal wieder ein Pferd reiten.«
»Unten im Kellergeschoss hätte ich Einhörner zu bieten. Du kannst auf einem von ihnen ausreiten.«
»Nein, sie mögen ausschließlich Jungfrauen. Und zu dieser Feier komme ich zu spät.«
Reynard kehrte in sein eigenes Quartier zurück. Bei aller Erschöpfung empfand er eine nagende Ungeduld. Der morgige Tag brächte neue Herausforderungen, aber auch eine weitere Chance, in der frischen Luft der Außenwelt zu verweilen, Ashe nahe zu sein und Teile seiner selbst wiederzuentdecken, die er lang gestorben glaubte. Doch welchen Sinn hatte es, ins Leben zurückzukehren, um danach aufs Neue in der sonnenlosen Burgexistenz zu versinken?
Dieser Frage war er überdrüssig, weil es keine angenehme Antwort darauf gab. Die Burg war sowohl erdrückend als auch sicher.
Verdammt, verflucht, verdammt, verflucht!
Seine Beschimpfungen schlugen im Takt seines Herzens.
Er öffnete die Tür zu seiner spartanischen Privatunterkunft. Sie bestand aus einem Wohnraum und einer Schlafkammer, sonst nichts. Reynard brauchte nicht viel. In einer Truhe lagerten seine Waffen, in einer anderen seine Kleidung. Ein kleines Bücherregal rundete die Möblierung ab.
Nach dem chaotischen Überfluss in Ashes Welt sah er seine Räume mit anderen Augen. Sie gemahnten an eine Mönchszelle. Keinerlei helle, sonnige Farben. Auf dem Weg in sein Schlafzimmer zog er das neue T-Shirt aus. Sein schmales Bett wirkte so einladend wie ein Amboss. Auf der schlichten Überdecke stand die Tüte mit seinen Sachen. Behutsam nahm er die abgetragene Uniform heraus und faltete sie ordentlich zusammen. An ihr war längst nicht alles original. Der rote Stoff war größtenteils geflickt,
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