Seelenkuss / Roman
4. April, 9.15 Uhr Morgan’s Gym
Ashe stieg vom Laufband, schnappte sich ihr Handtuch und die Wasserflasche und lief die Treppen hinauf ins oberste Stockwerk des Fitnesscenters. Dort befand sich ein großer scheunenähnlicher Raum mit einem Bereich für Fechttraining. An einem langen Gestell hingen Masken und Jacken, an einem anderen die Übungs- und Fechtdegen. Die Ausrüstung war eher etwas für Laien, wohingegen die Turnierfechter im
Salle
der Uni übten, wo ein ehemaliger Olympia-Fechter als Trainer arbeitete und es elektronische Trefferzähler gab. Ashe ging es weniger um Stil als um Aggressionsabbau, und beides bot das Morgan mit brutaler Effizienz.
Im Fechtbereich hielt sich niemand sonst auf. Die morgendlichen Fitnesscenter-Besucher scharten sich vornehmlich unten um die Cardio-Geräte. Ashe nahm eine Klinge von dem Gestell und fing mit ihren Übungen an. Der Degen besaß eine abgestumpfte Spitze, eigens gemacht, um sich lange genug in der Kleidung des Gegners zu verhaken, dass der Treffer registriert wurde. Nicht tödlich, aber ein Hieb mit diesem Degen tat immer noch weh.
Da sie allein war, sparte Ashe sich Maske und Jacke.
Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht herein, wurde von den Spiegeln und Ashes Klinge zurückgeworfen und ließ die Farbe des alten Dielenbodens wärmer wirken. Ashe stellte ihre Gedanken ab und konzentrierte sich ganz auf ihre Bewegungsabläufe in dem ausgefeilten, gefährlichen Ballett.
Grandmas Talismane hatten sie letzte Nacht endlich wieder richtig schlafen lassen. Aber sie sorgte sich immer noch um ihren Job beziehungsweise dessen Verlust, um Eden und den entsetzlichen Fehler, den Ashe begangen hatte, indem sie vergaß, wie oft Kinder lauschen, wenn man denkt, sie wären mit etwas völlig anderem beschäftigt. Sie sorgte sich außerdem wegen Reynard und der hundertundein Monster, die sich in den Kopf gesetzt hatten, ihr Leben zu verkomplizieren. Es war übel, wenn man nicht einmal mehr wusste, worüber man sich zuerst sorgen sollte, weil die Auswahl schlicht zu groß war.
Aber wenigstens hatten ihre Unmengen Sorgen erst nach erholsamen sieben Stunden vampirfreien Schlafs eingesetzt. Vorher hatte Ashe natürlich einen Telefonmarathon absolviert und all die nachtaktiven Typen angerufen, die gewillt oder imstande waren, ihr nützliche Informationen zu liefern. Leider hatte niemand einen Dieb, Dämon oder sonst jemanden gesehen, der mit einer Urne unter dem Arm herumstolziert war. Sie begann, die Bewegungen zu variieren, einige Hiebe zu vollführen, als befände sie sich in einem echten Duell.
Hieb, Schritt, Drehung, Parieren.
Wenn man wirklich kämpfte, musste man improvisieren können. Das hatte sie von Roberto gelernt.
Ihr Mann hatte ihr damals das Fechten beigebracht – eines von vielen Hobbys, das zu seinem gefahrensüchtigen Lebensstil gehört hatte. Vielleicht hatte es deshalb gleich zwischen ihnen gefunkt. Als sie sich begegneten, war Ashe zutiefst fatalistisch gewesen. Roberto hatte sie in einer Bar in der Schweiz aufgelesen, ihr beigebracht, das Leben wieder zu lieben, und sie vier Monate später geheiratet.
Ashe erreichte das Ende des Saals, drehte sich um und arbeitete sich in die andere Richtung vor.
Stoß, Parieren.
Bei Roberto hatte sie die Vergangenheit vergessen können, ihre Eltern und ihre Schuld. Für dieses Geschenk würde sie ihn immer lieben.
Sprung, Hieb, Rückzug.
Hätte sie ihren Mann drängen sollen, weniger Risiken einzugehen? Wäre es ihr gelungen, würde er noch leben. Aber wäre er Roberto gewesen? An welchem Punkt wurde Beschützen zu Anketten?
Falls Grandma jedoch recht hatte und Ashe eine Kämpferin war, die geboren wurde, um zu schützen, nahm sich ihre bisherige Erfolgsbilanz miserabel aus. Die Ashe-Carver-Gefahrenzone – sprich: willkürliche Magie, rasende Stiere und Vampirheckenschützen – überlebten nur wenige.
Und nun passierte es schon wieder. Wenn Ashe keinen Weg fand, Reynard zu helfen, würde er sterben.
Furcht brach über sie herein, machte ihre Gliedmaßen schwer, so dass sie mitten in der Bewegung stehen blieb. Sie wollte ihn nicht verlieren. Zwar hatte sie nichts als einen Kuss von ihm bekommen, doch dieser war … Ihr fehlten die Worte, um ihn zu beschreiben.
Außer
erster
Kuss. Und das war das Problem. Reynard gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein. Erstmals seit Robertos Tod glaubte sie, wieder mit einem Mann zusammen sein zu können, obwohl sie nicht genau wusste, wie es ihr damit ging. Nach wie vor
Weitere Kostenlose Bücher