Seelenkuss
aus dem Wasser auf, hielt sich am Bootsrand fest. Der Nachen legte sich unter seinem Gewicht bedenklich zur Seite. Die Stake schabte über das Holz, stieß gegen seine Hand. Er packte sie, gab seinen schwankenden Halt auf und hielt sie wie eine Zerda vor sich, jene kurze Jagdlanze, mit der er schon als Kind umzugehen gelernt hatte.
» Wer hat gesagt, ich würde kommen? « Seine Stimme klang viel zu rau.
› Du kennst ihre Namen. Jene, die wie du die Runen tragen. Sie sagten, jener eine käme. Der, den sie die Windklinge nennen. Der sein Geburtsrecht aufgegeben hat, um den Seelen zu dienen. Er würde kommen, um zu tun, was schon einmal getan wurde. Sie warten auf dich. ‹
» Nein! Du kannst sie nicht übergesetzt haben. Sie müssen über die TellElâhr gegangen sein! Sie hatten das Recht dazu. « Er umklammerte die Stake fester.
KaîRón neigte den Kopf ein wenig mehr. Fahler Nebel trieb hinter ihm über die Bucht. Gestalten bewegten sich in ihm. › Sie haben ihr Recht verwirkt, denn sie haben zugelassen, dass er zurückkam. ‹
» Es war nicht ihre Schuld! «
› Wessen Schuld es war, ist ohne Bedeutung. Sie haben es zugelassen und damit ihre Schwüre gebrochen. Bis er erneut gebannt ist, bleibt ihnen der Weg in das Reich jenseits der TellElâhr verwehrt. ‹ KaîRón machte eine Geste nach der Stake hin. › Was du vorhast, kann ich nicht gestatten. ‹
» Dann setz uns über! «
› Ich setze nur die Toten über. Komm ans Ufer zurück. ‹
» Ich muss zum Wächter der Seelen. Du weißt, dass es für mich allein keinen anderen Weg hinüber gibt. « Die Stake zerrte an seinem Griff, wie ein Hund an der Leine, der zu seinem Herrn zurückkehren will. Der Nebel hinter dem Fährmann hatte sich zu silbrig grauem Schimmern verdichtet.
› Auch um deinetwillen dürfen die Gesetze dieser Welt nicht gebrochen werden. Du wurdest nicht gerufen! Komm ans Ufer zurück. ‹
Javreen packte die Ruderstange fester und zwang seine vor Kälte gefühllosen Beine über den Bootsrand. Der Schmerz grub sich erneut in seine Brust, wühlte mit eisigen Fingern nach seinem Herzen. Ein Schrei erstickte in seiner Kehle. Er konnte nicht mehr atmen. Unsanft schlugen ihm die schwarzen Planken entgegen. Das Boot schaukelte heftig unter ihm. Verbissen klammerte er sich an der Stake fest, die wütend in seinen Händen bebte. Für einen kurzen Augenblick glaubte er ein Heulen in seinem Geist zu hören, dann war der Schmerz mit einem Schlag wieder jenem kalten Brennen von zuvor gewichen. Gierig sog er die eisig schmeckende Luft ein, umklammerte den Bootsrand mit einer Hand und hievte sich auf die Knie. Die Stake lag still in seiner Hand. Hatte KaîRón sich entschlossen, doch Gnade zu zeigen? Hastig sah er zum Ufer hin. Der Nebel hatte das Wasser erreicht. Die Seelen darin sahen zu ihm her. Zwei von ihnen hatten die dunkle Gestalt KaîRóns zu Boden gerungen. Eine davon richtete sich halb auf, drehte sich zu ihm um. Ein Korun mit einer Narbe am Kiefer. Kälte. Der Griff eines Dolches in seiner Hand. Seine eigene Stimme, die brüchig » Töte mich! « flüstert.
Auch die zweite hob jetzt den Kopf. Ebenso ein Korun wie der andere. Hoch gewachsen. Eine dunkle Strähne hing ihm in die Stirn. Seine Züge hatten beinah etwas Jungenhaftes. » Ganz ruhig. Ihr seid in Sicherheit. Wir haben euch aus dem Kerker befreit. Niemand wird euch etwas tun. « Eine Faust, die schmerzhaft sein Kinn trifft. » Ich will euch nichts Böses. Ihr könnt mir vertrauen, Freund. «
Der erste der beiden hob die Hand zu einem schweigenden Gruß. Javreen stemmte sich endgültig auf die Füße, erwiderte die Geste genauso wortlos. Dann stieß er die Ruderstange ins Wasser und lenkte das Boot rasch vom Strand fort. Dieses Mal fügte die Stake sich seinem Willen.
Er zog Darejan näher am Ufer aus dem Wasser, als er erwartet hatte. Sie musste ihm entgegen ihrer Abmachung nachgeschwommen sein. Eine ganze Weile saß sie zitternd und zähneklappernd in einer schwarz glänzenden Pfütze am Bug und beobachtete ihn dabei, wie er die Ruderstange gleichmäßig Hand über Hand aus dem Wasser zog und sie auf dieselbe Weise langsam wieder eintauchte. Irgendwann gab sie ihren Platz auf und kauerte sich am Heck zu seinen Füßen zusammen. Sie sprachen lange Zeit nicht, während das Boot lautlos über den Fluss glitt. Einige Male setzte Javreen an, um ihr zu erzählen, wer ihm am Ufer des KaîKadin geholfen hatte, doch er stieß die Luft jedes Mal wieder aus, ohne etwas gesagt zu
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