Seelenkuss
getan. Rejaan kniete vor ihm und betrachtete ihn voll Trauer und Mitleid.
» Kannst du aufstehen? « Zaghaft berührte sie seinen Arm.
» Ja. « Er brauchte ihre Hilfe, aber schließlich war es geschafft. Für einen Moment blickte er blind in das Grau des Nebels, erinnerte sich daran, wie Cjars Gegenwart, seine Berührung sich in seinem Geist angefühlt hatte. Dann schloss er die Augen und barg diese Erinnerung in den Tiefen seiner Seele, ehe er den Schmerz zurückdrängte. Von nun an würde es nur noch seine Pflicht geben. Für mehr hatte er keine Kraft.
» Bist du verletzt? « Der Klang von Rejaans Stimme weckte Bedauern in ihm, aber auch dieses Gefühl verdrängte er. Dann erst wurde ihm der Sinn ihrer Worte bewusst, und er blinzelte verwirrt, ohne zu begreifen. Ihre Hände, die sein Hemd über der Schulter zurückschoben, waren warm. Sie holte scharf Atem, und er senkte den Blick auf die Stelle, die sie entblößt hatte. Das Fleisch war schwarz unterlaufen. Eine doppelte Reihe dünner Zähne hatte ihre Abdrücke darin hinterlassen. Er spürte keinen Schmerz. Nur eine leichte Taubheit den Arm hinunter. Die Wunde blutete nicht. Bedächtig holte er noch einmal Luft und straffte sich langsam.
» Nein « , schüttelte er dann den Kopf, um ihre Frage zu beantworten. Die Stirn in Falten gelegt, sah sie von seiner Schulter zu seinem Gesicht und zurück.
» Es ist nicht schlimm.– Was ist mit dir? « , fragte er, ehe sie etwas sagen konnte.
» Nur ein paar Kratzer. « Sie schob den Ärmel in die Höhe, um sie ihm zu zeigen. Da waren tatsächlich nur sechs parallele rote Linien. Eine davon hatte ihre empfindliche Unterarmflosse verletzt. Behutsam strich er mit den Fingern über ihrer Schläfe, um sich zu vergewissern. Nein, die Kreatur hatte nicht mehr Schaden angerichtet.
» Verzeih mir. Es war meine Schuld. Ich hab sie auf uns aufmerksam gemacht « , murmelte er und ließ die Hand an seine Seite zurückfallen.
Sie sagte nichts, berührte nur leicht seinen Arm und schob dann ihre Hand wie so oft zuvor in seine. Javreen war dankbar für die Wärme, die von ihr ausging. Sie half, den Schmerz in Schach zu halten. Er warf einen kurzen Blick zu der Mondscheibe über ihren Köpfen, die sich deutlich vor der Schwärze des Himmels abzeichnete. Sie hatte das erste Viertel ihrer Bahn hinter sich gelassen und ihr fahles weißes Schimmern war einem dunklen Goldton gewichen. Auch Rejaan hatte hinaufgesehen, nun nickte sie und folgte dann schweigend dem leisen Zug seiner Hand, als er sich abwandte und weiterging.
Irgendwann wurde der Boden unter ihren Füßen zu glatten Steinplatten, dann zu flachen Stufen, die mit jedem Tritt steiler emporzuwachsen schienen.
Sie hatten gerade das Ende erreicht, als sie vor ihnen saßen: Zwei mächtige RónAnór, deren dunkle Augen sich auf sie richteten, kaum dass sie die letzte Stufe verlassen hatten. Sofort blieben sie stehen. Rejaan machte einen Schritt näher an ihn heran. Ihre Hand in seiner war plötzlich kalt und feucht. Die Bestien hockten auf tonnenförmigen, umgestürzten und zertrümmerten Steinsäulen und starrten sie reglos an. Hinter ihnen führte eine doppelte Säulenreihe auf etwas zu, das eine gigantische Halle zu sein schien– von nichts anderem begrenzt als tiefster Schwärze und dichtem, silbern schimmernden Nebel.
Auch der Boden war mit einer dünnen, grau wirbelnden Schicht bedeckt, doch hier waren unter ihr Mosaike aus schwarzen und weißen Steinplatten und Edelsteinen zu erkennen. Eine der Bestien reckte den dunkel geschuppten Schlangenhals und stieß ein dröhnendes Fauchen aus, wobei sie ihre federlosen Schwingen ein Stück öffnete. Die schwarz glänzenden Klauen traten auf dem fahlweißen Stein der umgekippten Säule hin und her. Ein Stück brach unter ihnen heraus und polterte zu Boden. Für einen Moment wirbelte Nebel auf, sank aber sogleich wieder zurück. Auch das zweite Ungeheuer wandte ihnen den Echsenschädel mit der schmalen Schnauze zu und fauchte in einer deutlichen Aufforderung weiterzugehen.
Javreen drückte Rejaans Hand, während ihm selbst das Herz gegen die Rippen pochte und tat, was die Bestien wollten. Auch wenn er schon einmal hier gewesen war, hatte er doch noch nie dem Wächter der Seelen selbst gegenübergestanden. Nur der Großmeister der DúnAnór war bisher vor den Herrscher über das Jenseitsreich und die Seelen der Toten getreten. Aber niemand anders als der Wächter würde sie am Ende dieses säulenflankierten Weges erwarten.
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