Seelenmoerder
es nicht so traurig gewesen wäre. Die letzte Frau, die er hatte beschützen sollen, war ums Leben gekommen, und sein Versagen lastete nach wie vor schwer auf seinem Gewissen. Wenn Abbie Schutz brauchte, hätte sie sich keinen Ungeeigneteren dafür aussuchen können.
Während er nur noch mit halbem Ohr Riveras Lamento über Juárez’ jämmerliche Leistung als Liebhaber lauschte, zogen die Erinnerungen an ihm vorüber. Daran, wie Abbie durch die Luft gehechtet war, um Juárez zu Fall zu bringen, und daran, wie sie gegen Barlow geboxt hatte. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Trotz ihres zierlichen Körperbaus war Abbie Phillips sehr wohl imstande, sich selbst zu verteidigen.
Außer natürlich gegenüber ihrer Familie.
Sein Lächeln verschwand, als er an ihre widerwillige Enthüllung von gestern Abend dachte. Selbst wenn sie recht hatte und die Verwüstungen von ihrer durchgeknallten
Schwester verübt worden waren, fehlte ihm nach wie vor die Überzeugung, dass sie nicht in Gefahr war. Doch er hatte die »Betreten verboten«-Schilder durchaus wahrgenommen, die sie hinsichtlich des Themas aufgestellt hatte, und sich zurückgezogen. Er schätzte seine eigene Privatsphäre viel zu sehr, um sich in ihre einzumischen.
»Hat Hidalgo jemals irgendetwas in Ihrer Wohnung deponiert?« Die Frage holte Ryne zurück in die Gegenwart. »Vielleicht hat er Ihnen ja etwas gegeben, das Sie für ihn aufbewahren sollten.«
»Was denn?«
Holmes verlor einfach nie die Geduld. »Vielleicht ein verschnürtes Päckchen oder eine Schachtel. Kleidungsstücke. Klebeband.«
Geneva Rivera schüttelte den Kopf. Ihre Antwort klang verbittert. »Er hat nie einen Cent für mich ausgegeben, außer dass er die Drinks bezahlt hat, wenn wir ausgegangen sind. Aber sonst hat er mir nie was geschenkt.«
»Vielleicht hat er heimlich etwas in Ihrer Wohnung hinterlassen. Etwas im Schrank versteckt oder unter dem Bett.«
Die Frau lachte kurz auf. »Ich wohne mit zwei anderen Frauen zusammen, und da hat man ungefähr so viel Privatsphäre wie in einer Schuhschachtel. Da kann man nirgends was verstecken, ohne dass eine andere darüber stolpert. Glauben Sie mir, ich hab’s versucht. Diese eine Tussi, diese Greta Marko, zieht einfach immer wieder meine Klamotten an. Also hab ich versucht, meine besten Sachen wegzutun, sie sozusagen zu verstecken, wie Sie gesagt haben, aber dann hat sie …«
»Können Sie mir sagen, wo Hidalgo zu irgendeinem dieser Zeitpunkte war?« Holmes’ Frage unterbrach den immer erhitzter werdenden Redeschwall der Frau, und Ryne horchte auf. Doch Geneva Rivera wirkte unsicher. Holmes
legte ihr einen Kalender vor, den sie lustlos durchblätterte. Juárez’ Anwesenheit an seinem Arbeitsplatz bei Valu-Mart war bereits überprüft worden. Angesichts seiner Arbeitszeiten hätte er selbst an den Tagen, an denen er dort gearbeitet hatte, die Vergewaltigungen verübt haben können. In manchen Fällen wäre es zwar zeitlich sehr eng geworden, doch immerhin möglich. Sein Zweitjob als Putzkraft bei Shorty’s taugte nicht für ein Alibi. Der Besitzer und die anderen Angestellten waren bereits befragt worden, allerdings arbeitete niemand, wenn Juárez dort war.
Das hieß, dass Juárez jemand anderen brauchte, der ihm für die fraglichen Tatzeiten ein Alibi geben konnte. Die Frau im Verhörraum war ihm jedenfalls keine große Hilfe.
»Sind Sie sicher?«
Geneva Rivera nickte nachdrücklich. »Wir haben uns Ende April kennengelernt. Und das letzte Mal war ich Mitte Juni mit Hidalgo zusammen. Am achtzehnten. Da hab ich ihn zur Taufe meiner Nichte mitgenommen. Glauben Sie mir, meine Familie war alles andere als beeindruckt. Da hab ich dann beschlossen, ihm endgültig den Laufpass zu geben.«
»Wie steht’s mit diesem Tag im Mai?« Er tippte auf die entsprechende Seite im Kalender. Es war der Tag des Überfalls auf Amanda Richards.
Die Frau zuckte die Achseln. »Kann ich nicht genau sagen. Meistens haben wir uns nur am Wochenende getroffen, aber manchmal auch abends an Werktagen. Allerdings nicht oft, er hat ja diesen Job bei Shorty’s gehabt und musste meistens dahin.«
Obwohl sich Holmes noch eine Weile abmühte, hatte Geneva Rivera nichts Brauchbares mehr beizutragen. Ryne kehrte nach der Vernehmung in düsterer Stimmung an seinen Schreibtisch zurück. Er konnte den Staatsanwalt genauso gut jetzt anrufen und es hinter sich bringen. Wenn sich
in den nächsten Stunden nichts mehr ergab, war Juárez ein freier Mann.
Abbie hastete über
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