Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
füllte er den ganzen Raum. Aus pragmatischen Gründen trug er immer schwarz, seine langen, dunklen Haare wurden von einem Gummiband zusammengehalten. Der kleinen Frau musste er allerdings trotz seines freundlichen Gesichts wie ein finsterer Riese vorkommen.
»Frau Weinreich, es tut mir ehrlich leid, aber ...«
»Ach, was wissen Sie denn schon! Uns tut es auch leid!«, fauchte sie ihn unvermittelt an. »Seit Jahren schon. Nur Ärger. Einmal im Monat kommt die Polizei vorbei und übernimmt dabei die Türklinke aus der Hand des Jugendamts. Ja – Friederike ist schwierig. Ja – Friederike ist hier und da kriminell, hat gestohlen und Drogen ausprobiert. Aber jetzt geht sie arbeiten und wird ihren Weg machen.«
»Ihre Tochter«, er atmete tief durch. »Ihre Tochter wurde ermordet in ihrer Wohnung in der Breitscheidstraße aufgefunden.«
Fassungslos starrte sie ihn an.
»Wir gehen im Moment davon aus, dass sie am Ende einer Party in ihrer Wohnung niedergestochen wurde. Ein Mieter des Hauses hat heute Morgen die Polizei verständigt.«
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Frau Weinreich ruderte hilflos mit den Armen und sah Peter Nachtigall flehend an.
»Das ist sicher ein Irrtum. Das ist unmöglich! Sehen Sie, Friederike hat doch so viele Pläne. Sie will als Quereinsteiger ein Studium anfangen. Psychologie. Vorher eine Ausbildung im sozialen Bereich.« Tränen liefen ihr über die eingefallenen Wangen. Sie schien es nicht zu bemerken. Nachtigall registrierte die tiefen Falten, die sich von den Mundwinkeln zum Kinn zogen. Die Augen waren tief in den Höhlen versunken und dunkle Schatten lagen darunter. Friederikes Mutter sah verhärmt und desillusioniert aus. Das blondierte Haar war am Ansatz dunkel nachgewachsen, ihre Kleidung war sauber, aber abgetragen. Wahrscheinlich mussten sie sehr sparsam mit ihren finanziellen Ressourcen umgehen, überlegte Nachtigall, ein Haus gebaut, Kinder ... Und bestimmt hatten sie auch die große Tochter unterstützt.
»Es ist kein Irrtum. Ich weiß, dass das eine furchtbare Nachricht ist.«
»Sie wollte doch jetzt ganz neu anfangen. Eigene Wohnung, eigenes Leben, große Pläne. Alles sollte gut werden.«
Zitternd schlug sie ihre Hände vor das Gesicht und setzte sich rasch auf einen der Küchenstühle.
»Was geht hier vor?« Drohend baute sich ein muskulöser Hüne vor dem ungebetenen Besucher auf.
Nachtigall richtete sich zu voller Größe auf und sah auf den Mann hinunter.
Der Herr des Hauses warf einen ratlosen Blick auf die haltlos schluchzende Frau am Küchentisch, fixierte dann Peter Nachtigall mit mühsam unterdrückter Wut.
»Was hast du mit ihr gemacht, hä?«
»Kriminalpolizei Cottbus, wir…«
»Nicht schon wieder! Was ist es diesmal? Raub? Entführung? Erpressung?«
»Mord.«
Das verschlug dem Muskelpaket erst einmal den Atem.
»Ihre Tochter Friederike wurde ermordet.«
»Die ist nicht meine Tochter.«
»Sie stammt aus meiner ersten Ehe. Deshalb trägt sie auch einen anderen Namen«, flüsterte Frau Weinreich erstickt.
»Und – wer war’s?«, fragte Herr Weinreich fordernd.
»Das wissen wir noch nicht.«
»Bei dem Gesindel, mit dem die Göre Umgang hatte, wundert mich das gar nicht. Bestimmt war das einer von diesen Junkies, der bei ihr Drogen kaufen wollte.«
»Hör auf! Hör sofort auf!«, schrie die Mutter gequält auf.
»Ist ja schon gut. Du wolltest es nie wahrhaben, dass mit deiner kleinen Prinzessin etwas nicht in Ordnung war.«
»Sie sagen, sie hat gearbeitet. Wo war das?«, mischte sich Nachtigall in den beginnenden Disput.
»Sie hat bei einem Projekt mitgemacht. Für Mädchen. Das Jugendamt hat das gefördert. Zuletzt hat sie in einer Autowerkstatt gearbeitet. Das Jugendamt hatte ihr diese Lehrstelle beschafft. Nebenher hat sie ein paar Mädchen im betreuten Wohnen unterstützt. Sie hat ihnen geholfen Anträge auszufüllen, sich beim Arbeitsamt zurechtzufinden, die Schwangerschaftsberatung zu nutzen und all so was«, schniefte die Mutter.
»Ja, genau. Ich weiß noch wie prima ich das fand. Ausgerechnet die durchgeknallte Friederike betreut Mädchen mit familiären Schwierigkeiten oder Drogenproblemen. Ha!«, höhnte der Mann. »Hätte sie mal lieber versucht ihre eigenen Probleme in den Griff zu kriegen!«
»Ich muss ihren Vater informieren«, stammelte Frau Weinreich und verließ leicht schwankend den Raum.
»Ihre Tochter war ein unsägliches Biest«, stellte der Mann lapidar fest, als sie außer Hörweite
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