Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
vorbei. Ich saß im Rollstuhl, die Sportkarriere war beendet. Aber es war mehr als das. Meine Freunde hatten auch alle mit Sport zu tun. Immer wenn sie mich sahen, fühlten sie sich schlecht, wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, worüber wir reden könnten. Sie hatten doch immer nur das eine Thema. Nach und nach kamen sie immer seltener. Dann gar nicht mehr. Ich war allein.«
»Viel Zeit um sich Gedanken über denjenigen zu machen, der an der Situation schuld ist. Seinen Hass ein bisschen zu pflegen.«
»Oh ja. Und wenn man ihn pflegt, dann wächst er wie ein dankbares Pflänzchen, das man regelmäßig düngt und gießt. Er beherrscht bald das Denken. Ich jedenfalls dachte an fast nichts anderes mehr. Unser Gemeindepfarrer kam ab und zu bei mir vorbei und wir sprachen viel über meinen ›inneren Zustand‹, wie er das nannte. Er riet mir zu einer Therapie. Danach konnte ich dieses Mädchen zwar nicht lieben – aber ich entdeckte etwas anderes: Trotz der Behinderung war es möglich mir neue Horizonte zu erschließen. Ich arbeite jetzt für ein Kinderhilfsprojekt in Somalia. Wir haben dort Schulen gegründet, betreuen Waisen und unterrichten auch erwachsene Frauen. Sie lernen nähen und wir helfen ihnen dabei ihre Waren zu verkaufen. Es ist ein gutes Projekt – und vielleicht wird es auch helfen AIDS einzudämmen, wenn es uns gelingt das Selbstbewusstsein der Frauen so weit zu stärken, ihre Männer zum Gebrauch von Kondomen zu überreden. Wer weiß?«
»Sie wollen mir zu verstehen geben, Sie hätten eine neue Aufgabe gefunden und sind nun frei von Hass gegen Friederike Petzold? Das freut mich wirklich«, meinte Nachtigall und lächelte sie freundlich an. Endlich jemand, der nicht den Tod dieses Mädchens gewünscht hatte. Er empfand fast eine Art Dankbarkeit.
»Sehen Sie, es war nie meine Stärke, eine Situation als gegeben anzusehen. Ich bin nicht der Typ, der sich mit irgendetwas abfindet. Ich kämpfe. Im Sport müssen Sie das ohnehin tun. Geht ein Wettkampf verloren, vergiss ihn, aber vergiss nicht, wie sich die Niederlage angefühlt hat. Denke daran, dass du das nie wieder erleben willst. So habe ich mich aus dem Rollstuhl gearbeitet. Aber die Krücken werde ich wohl nicht mehr los.«
Er sah sie fragend an und schwieg.
Als sie weitersprach hatte ihre Stimme alle Weichheit verloren und Nachtigall spürte die Welle unterdrückten Hasses, die ihm entgegenschlug schmerzhaft wie eine Verbrennung auf der Haut.
»Der Richter, der damals meinte, ich hätte damit rechnen müssen, dass mir ein total zugedröhnter Radfahrer auf meiner Seite entgegenkommen könnte, der behauptete, ein Mann hätte in derselben Situation mit Sicherheit keinen Unfall gebaut, kann nicht erwarten, dass ich mich mit diesem Urteil je abfinden werde! Genauso wenig wie dieses Mädchen nicht damit rechnen konnte, dass ich den Freispruch je akzeptieren würde! Ich glaube, Sie verstehen mich nicht richtig. Ich habe nicht aus lauter Nächstenliebe darauf verzichtet mich privat an ihr zu rächen! Ich konnte es nur nicht! Und ich konnte mir niemanden leisten, der es für mich übernommen hätte! In den ganzen Jahren ist mein Hass nicht etwa ausgebrannt, sondern er wartet in einer stillen Kammer, gerade weit genug entfernt um mein neues Leben nicht zu gefährden oder zu zerstören. Aber nah genug um mir zu jeder Zeit im Gedächtnis zu sein.«
»Sie bedauern, nicht selbst gemordet zu haben?«
»Das kann ich so nicht sagen«, sie atmete tief durch und ihre Stimme wurde wieder ruhiger. »Vielleicht. Bestimmt hätte ich es gerne getan, wenn ich dadurch etwas gewonnen hätte. Doch ihr Tod bringt mir mein altes Leben nicht zurück – und vielleicht will ich das jetzt auch nicht mehr. Ganz sicher hätte ich mit solch einer Tat nicht mein neues Leben gefährdet. Vom Gefängnis aus kann ich für die Menschen in Somalia nichts mehr tun.«
»Das bedeutet, wenn Sie eine Möglichkeit gesehen hätten Friederike Petzold so geschickt aus dem Weg zu räumen, dass Ihnen niemand eine Schuld nachweisen könnte, hätten Sie den Mord begangen?«
»Sehen Sie – ich musste diese Entscheidung nicht treffen und vielleicht hätten mich im Ernstfall moralische Bedenken abgehalten – aber das kann ich nicht mit Sicherheit behaupten. Genauso ist denkbar, dass ich die Chance genutzt hätte. Wir Menschen sind schwache Geschöpfte, Herr Nachtigall, wir erliegen schon mal gerne der Versuchung.«
Nachtigall spürte unbändigen Zorn in sich aufwallen. Wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher