Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
sich zu Nachtigall um.
»In Ihren Augen mag das alles sehr verwerflich aussehen, das verstehe ich sogar. Für uns war es ein Ventil. Wir hatten das Gefühl aktiv geworden zu sein, nicht mehr passiv dem unverständlichen Urteil des Gerichts ausgeliefert. Zusammen konnten wir etwas bewegen. Es ist eingewaltiger Unterschied ein entrücktes Kind in der Psychiatrie zu besuchen und denken zu müssen, es gibt keine Gerechtigkeit, die, die dir das angetan hat, wird unbehelligt und fröhlich weiterleben und womöglich noch andere schädigen – oder zu spüren, man nimmt die Sache nun selbst in die Hände und wird dafür sorgen, dass diese Person auch nicht mehr glücklich in den Tag hineinleben kann.«
»Und ich saß immer nur weinend am Grab meiner Tochter und konnte vor Trauer und Schmerz nicht mehr klar denken. Jetzt berichtete ich ihr von unseren Aktionen gegen ihre Mörderin. Das gab mir eine gewisse Befriedigung.«
»Ich nehme Ihnen das nicht übel, wenn sie uns nicht verstehen. Vielleicht kann man das auch gar nicht, wenn man nicht selbst von so einem Schicksal betroffen ist. Ich habe alles verloren, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hat, und das nur, weil ich dieses zugedröhnte Gör damals nicht überfahren habe. Und ich musste mich öffentlich von diesem Richter zurechtweisen lassen, der meinte, mangelhaftes fahrerisches Können sei die Unfallursache gewesen. Hätte ich sie überfahren, wären mir diese Schmerzen und Qualen einer langwierigen Therapie möglicherweise erspart geblieben, ich hätte eine traumhafte, sportliche Karriere gemacht. Für mich sah es lange so aus, als gäbe es Gerechtigkeit immer nur für andere und nicht für mich. Das sollte sich ändern.«
»Und was erhofften sie sich konkret?«, formulierte Peter Nachtigall seine Frage mit mühsam unterdrückter Wut neu.
»Vielleicht hoffte ich, sie würde in Panik, weil sie uns nicht loswurde, vor ein Auto laufen und fortan behindert sein. Das wäre eine Entwicklung gewesen, mit der ich hätte leben können.«
»Sie haben die Arbeit der Polizei erschwert, haben uns belogen, falsche und unvollständige Angaben gemacht«, Albrecht Skorubski zählte an den Fingern die Vergehen auf. »Dazu kommen all die anderen Dinge, wie Hausfriedensbruch, Verleumdung und so weiter.«
»Ja, was hätten wir denn tun sollen? Ihnen auf den Kopf zusagen, was wir alles unternommen haben? Dann hätten sie uns des Mordes verdächtigt – und das wäre falsch gewesen. Keiner von uns hat sie umgebracht!«
»Wie wäre denn ihr eigenes, ach so sauberes Gewissen damit klargekommen, wenn sie einer anderen Mutter die Tochter genommen hätten? Wie wäre es Ihnen denn bei dem Gedanken gegangen, Friederike Petzold habe sich wegen dieser ständigen Verfolgungen umgebracht?«, zischte Peter Nachtigall und knallte kreidebleich vor Zorn die Tür hinter sich zu.
42
»Schwester Hilde, es ist sehr nett von Ihnen, dass sie sich für uns Zeit nehmen«, begrüßte Peter Nachtigall die burschikose, junge Frau vom Pflegedienst.
»Geht schon klar. Es hat sie keiner so gut gekannt wie ich.«
Sie erbrachen das Siegel an der Tür und betraten die Wohnung von Frau Markwart. Die Luft war abgestanden und Schwester Hilde öffnete die Fenster.
»Es geht um die Frage, ob hier etwas fehlt. Durchwühlt wurde nichts, aber vielleicht hat der Täter genau gewusst, wo er suchen muss.«
»Ich verstehe schon.«
Schwester Hilde sah sich aufmerksam um.
»Erzählen Sie uns doch ein bisschen was über ihre Patientin«, forderte Nachtigall sie freundlich auf, während Albrecht Skorubski eine der Schubladen im Wohnzimmer öffnete und vorsichtig den Inhalt ausräumte. Schwester Hilde sah ihm einen Augenblick dabei zu, dann lachte sie.
»So weit unten bewahrte sie nur unwichtige Dinge auf. Das Bücken fiel ihr sehr schwer.«
»Frau Markwart war eine komplizierte, alte Dame. Ich glaube nicht, dass sie sehr beliebt in dieser Straße war. Jeden Tag hockte sie am Fenster und beobachtete jede noch so kleine Bewegung. Oft rief sie die Polizei an und meldete Falschparker hier am Ende der Straße beim Hotel. Dort ist Parken verboten, weil zum Beispiel bei einem Brand die Feuerwehr nicht nahe genug an das Gebäude herankäme. Und sie hat getratscht – wirklich den ganzen Tag lang. Oft versuchten die anderen etwas vor ihr zu verbergen, aber das gelang selten. Einmal hat mir Frau Gutmann ein Flugblatt gezeigt, das jemand unter den Scheibenwischer ihres Enkels geklemmt hatte. Auf dem stand, Friederike
Weitere Kostenlose Bücher