Seelenriss: Thriller
verdrehte und innerlich kochte. Sie hätte zu gerne sein verärgertes Gesicht gesehen, doch hier ging es nicht um Eitelkeiten, sondern um Menschenleben. Nicht zuletzt um ihr eigenes. Der Killer wollte spielen? Das konnte er haben. Doch ganz gleich, was diese Bestie da draußen mit ihr vorhatte, Lena hatte ihre eigenen Spielregeln.
4
Einige Stunden später …
Es war Nacht geworden in Wilmersdorf, einem Berliner Stadtteil, der ebenso angepasst und unauffällig war wie der Großteil seiner Bewohner. In dem abgelegenen Haus am Ende der Straße hätte eine glückliche Familie mit zwei entzückenden kleinen Kindern wohnen können oder aber ein zufriedenes Rentnerpaar im wohlverdienten Ruhestand, doch weder das eine noch das andere traf zu. Der Mond tauchte den Vorgarten in ein fahles Licht. Der Rasen war schon länger nicht gemäht worden, und die Grashalme bogen sich im aufkommenden Wind, der die Post aus dem überfüllten Briefkasten auf die Straße fegte. Auf dem Kiesweg vor dem Treppenaufgang lagen umgeworfene Gartenzwerge, und die Blumen vor der Eingangstür waren vertrocknet. Im Haus war es stockdunkel, lediglich aus dem hinteren, mit Brettern zugenagelten Fenster drang etwas Licht.
Der Raum hinter den Brettern war völlig verwahrlost. Der Geruch von Zigarettenrauch und etwas Fauligem hing in der stickigen Luft. Überall standen leere Bierdosen, Schnapsflaschen und überquellende Aschenbecher herum, und Pizza-Kartons sowie jede Menge zerknäueltes Papier lagen auf dem Boden verstreut. Mitten im Raum befand sich ein großer Schreibtisch mit heruntergebrannten Kerzen, daneben lagen angebrochene Antidepressiva-Packungen, stapelweise Bargeld und ein gerahmtes Bild. Eine bullige Gestalt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, im Mundwinkel eine heruntergebrannte Zigarette, saß im grellen Lichtschein eines Laptop-Monitors. Seine Hand ruhte auf der Maus, und auf dem Bildschirm erschien das Foto einer jungen Frau. Aufgenommen aus sicherer Entfernung, zeigte es Lynn Maurer auf dem Weg ins Büro. Der Mann zoomte das Bild heran und drückte seine Zigarette aus.
Ein hasserfülltes Schnauben drang durch den Raum. Nur wenige Mausklicks später war die Frau auf dem Bildschirm splitternackt. Der Mann im dunklen Kapuzenpullover zog eine Spieluhr in Form eines Porzellanengels auf dem Schreibtisch auf. Während sich die kleine Figur im grellen Schein des Monitors um die eigene Achse drehte, starrte der Mann mit zusammengekniffenen Augen weiter auf die Animation auf dem Bildschirm. Dazu summte er leise die Melodie des Kinderlieds, das die Spieluhr von sich gab, wie um sich selbst zu beruhigen. Der Cursor verwandelte sich beim Klick auf die Graphikleiste in ein großes Messer. Der Mann hörte nicht eher auf, damit über den Körper der Frau zu fahren, bis sie von Kopf bis Fuß mit tiefen Einschnitten übersät war. Flammen poppten fauchend auf und streckten ihre züngelnden Feuerarme nach der hilflosen Frau aus, bis sie lichterloh in Flammen stand. Mit einem wohligen Seufzer lehnte sich der Mann im Stuhl zurück und betrachtete zufrieden die Computeranimation. Anschließend klickte er auf einen Dateiordner, der mit einem Grabkreuz gekennzeichnet war. In dem Ordner befand sich eine Adressliste weiterer Personen, inklusive dazugehöriger Schnappschüsse, allesamt fotografiert auf dem Weg zur Arbeit, beim Joggen, im Supermarkt oder in der U-Bahn. Die Fotos waren durchnummeriert von eins bis fünf. Er betrachtete die Bilder und steckte sich genüsslich eine neue Zigarette an. Mit einem weiteren Mausklick öffnete sich ein Foto, das eine zierliche Frau auf einer nachtblauen Vespa zeigte.
5
Am Morgen des 26. Mai …
Hochkonzentriert feuerte Lena ein ganzes Magazin ab und traf jedes Mal ins Schwarze. Eigentlich hatte sie auf die Schulter oder die Oberschenkel zielen wollen, aber wie von selbst richtete sich der Lauf ihrer P6 immerzu auf die linke Seite des Brustkorbs. Lena war noch nie begeistert davon gewesen, eine Waffe zu tragen, doch seit der Morddrohung hatte Volker Drescher darauf bestanden, dass sie eine Pistole mit sich führte. Obwohl es Ewigkeiten her war, dass sie einen Waffenschein gemacht hatte, traf sie noch immer erstaunlich sicher. Außerdem hatte sie ihr allmorgendliches Jogging-Pensum hochgesetzt und lief die Strecke von ihrer Wohnung in der Boxhagener Straße zum Volkspark Friedrichshain mittlerweile in unter zwanzig Minuten. Dort joggte sie vier große Runden und machte Serien von Liegestütze und unzählige
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